Die Königin der Mathematik
„Die Mathematik ist die Königin der Wissenschaften und die Arithmetik die Königin der Mathematik“. Mit seinem Zitat weist einer der bedeutendsten Mathematiker aller Zeiten, Carl Friedrich Gauß (1777-1855), der Kunst des Rechnens, die zentrale Rolle zu.
Neben Zahlentheorie, Zahlensystemen und Verknüpfungsregeln gehört die Frage der Teilbarkeit zu den elementaren Betrachtungsgegenständen der Arithmetik. Euklid war wohl der Erste, der erkannte, dass das ganze arithmetische System auf dem Fundament der Primzahlen ruht. Primzahlen sind alle natürlichen Zahlen, die grösser als eins und nur durch eins und sich selbst teilbar sind, also 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29… Der „Fundamentalsatz der Arithmetik“ besagt, dass jede positive ganze Zahl als ein Produkt von Primzahlen dargestellt werden kann. Die Zahl 18 ergibt sich beispielsweise als Verknüpfung der Primzahlen 2 und 3: 18 = 2 x 3 x 3. Genauso ergibt sich 9108 als das Produkt von 2 x 2 x 3 x 3 x 11 x 23. Das Besondere an diesem Gesetz ist, dass es für jede Zahl immer nur eine einzige Möglichkeit gibt, sich aus Primzahlen herzuleiten. 9108 kann nur aus der genannten Verknüpfung von 2, 3, 11 und 23 entstehen, es gibt keine andere mögliche Kombination.[i] So wie die chemischen Elemente die Bausteine aller Moleküle sind, sind Primzahlen die Grundlage aller in der Natur vorkommenden Zahlen.
Das Mysterium der Primzahlen
Seit der Antike versuchen die Menschen das geheimnisvolle Wesen primer Zahlen zu enträtseln. Schon Euklid wusste, dass ihre Menge unendlich groß sein muss. Sein Beweis war der folgende: Wäre die Anzahl der Primzahlen endlich, dürfte sich jenseits der letzten keine weitere Primzahl mehr finden lassen. Man kann sich nun eine Zahl Z vorstellen, die das Produkt aller endlichen Primzahlen +1 ist: Z = P1 x P2 x P3 … x Pn +1. Wäre Z eine zusammengesetzte Zahl, müsste sie sich aufgrund des Fundamentalsatzes der Arithmetik restlos in Primfaktoren zerlegen lassen. Teilt man Z aber durch eine beliebige Primzahl, wird stets ein Rest von 1 übrigbleiben. Weil Z keine Primfaktoren hat, muss sie also definitionsgemäß eine Primzahl sein. Damit ist aber auch die Aussage, dass die durch P1x P2 x P3 … x Pn dargestellte Reihe endlich ist, zwangsläufig falsch. Euklid demonstrierte seinen Gedankengang anhand der ersten drei Primzahlen: Wären 2, 3 und 5 alle existierenden Primzahlen, wäre Z = 2 x 3 x 5 + 1 = 31. 31 ist aber ebenfalls eine Primzahl, die in der vermeintlich „endlichen“ Reihe nicht enthalten ist.
Eratosthenes von Kyrene, der rund 100 Jahre nach Euklid ebenfalls in Alexandria lebte, fand eine einfache Methode, mit der sich Primzahlen systematisch ermitteln lassen. Man beginnt mit der ersten Primzahl 2 und markiert alle Vielfachen von ihr, die somit zwangsläufig zusammengesetzte Zahlen sind. Genauso verfährt man mit der 3. Die 4 muss nicht mehr beachtet werden, denn sie ist ein Vielfaches von 2. Für die 5 werden wiederum alle Vielfache markiert und so weiter.
Das Sieb des Eratosthenes macht schon für die ersten 100 Ziffern deutlich, dass die Primzahlen völlig willkürlich im Raum verteilt sind. Und so geht es auch jenseits der 100 weiter. Diese seltsame Musterlosigkeit hat die Mathematiker von Anfang an herausgefordert. Gibt es eine Formel, deren Ergebnis ausschließlich Primzahlen liefert? Wenn ja, so wurde sie bis heute noch nicht gefunden. (Dem Schweizer Mathematiker Leonhard Euler verdanken wir die Formel x^2 + x + 41, die immerhin für die Zahlenreihe 0 bis 39 ausnahmslos Primzahlen generiert.) Die einzig erkennbare Gesetzmäßigkeit ist die, dass der Abstand von einer Primzahl zur nächsten tendenziell grösser wird, so dass es zunehmend Schwierigkeiten bereitet, große Exemplare in der Tiefe des Zahlenraums aufzustöbern: Unter den ersten 100 natürlichen Zahlen finden sich 25 Primzahlen. Zwischen 101 und 200 gibt es nur noch 21, für die nächsten 100 schrumpft die Gruppe auf 16. 1793 stellte der 15-jährige Carl Friedrich Gauß fest, dass sich die abnehmende Primzahlendichte anhand einer Formel abschätzen lässt. An der grundsätzlichen Regellosigkeit der Primzahlenverteilung im Zahlenraum ändert dies allerdings nichts. So folgen die Primzahlenzwillinge 824633702441 und 824633702443 direkt aufeinander.
Die elementaren Bausteine der mathematischen Ordnung scheinen selbst völlig ungeordnet zu sein, das Fundament der Arithmetik ist offenbar ein chaotisches Tohuwabohu. Und genau das macht die Primzahlen für die Kryptologie interessant. Die heutige Internetsicherheit beruht im Kern darauf, dass es sehr schwierig ist, sehr große Primzahlen zu finden. Durch die Multiplikation großer Primfaktoren können leicht gigantische Zahlen erzeugt werden; um den Code zu knacken, müssten die zugrundeliegenden Faktoren ermittelt werden. Selbst für die leistungsfähigsten der heute üblichen kommerziellen Rechner wäre dies mit einem mehrtausendjährigen Rechenaufwand verbunden (experimentelle Quantencomputer sind allerdings mittlerweile bereits in der Lage, diese Nuss zu knacken). Fände jemand eine eindeutige Formel für Primzahlen, würde dies über Nacht - auch ohne Quantencomputer) unsere gesamte Internetkryptographie aus den Angeln heben. Für Mathematiker wäre die Formel ein Traum – für den Rest der Menschheit ein Alptraum.
Die Zahlen werden grösser
Der Umgang mit großen Zahlen war seit jeher eine Herausforderung. Als hilfreich erwies sich die Erkenntnis, dass sich auch die Multiplikation, ihrerseits eine verkürzte Additionen, mit Hilfe von Potenzen noch einmal verdichten ließ: 10 ∙ 10 ∙ 10 = 10^3. Der griechische Mathematiker und Ingenieur Archimedes von Syrakus (um 287-212 v.Chr.) bewies, dass sich Potenzen multiplizieren lassen, indem man ihre Exponenten addiert:10^a ⋅ 10^b = 10^a+b: Also: 10^2 ∙10^3 = 10^5 anstelle von 100 ∙ 1.000 = 100.000. Das Wurzelziehen war wiederum nichts Weiteres als die Umkehr dieses Verdichtungsprozesses: Die fünfte Wurzel aus 100.000 ist 10.
In der Antike waren Größenordnungen, die mehrere Zehntausend überschritten, selten. (Die ägyptische Hieroglyphe für eine Million war auch das Symbol für den Gott der Unendlichkeit, Heh.) Das änderte sich, als in Europa im 16. Jahrhundert, Handel und Wissenschaften aufblühten. Da nun auch im Wortsinne astronomische Zahlen eine Rolle spielten, kam dem Rechnen mit Exponenten plötzlich praktische Bedeutung zu. Der schottische Mathematiker John Napier (1550-1617) begann Anfang des 17. Jahrhunderts, Gleichungen im Stil von 10^3 =1.000 nach dem Exponenten aufzulösen und als Logarithmen darzustellen: der Logarithmus von 1.000 zur Basis 10 ist 3. Logarithmen sind also nichts anderes als Exponenten. Napier berechnete solche Logarithmen für alle gängigen Zahlen. So ergibt 10^2,994 beispielsweise die Zahl 987. Er veröffentlichte umfangreiche Tafeln, in denen man Logarithmen nachschlagen, addieren und das Additionsergebnis zurückübersetzen konnte. Das Produkt von 987 ∙ 113 ergibt sich dann als 10^2.994 + 2.053 = 10^5.047 = 111.429,453. Das Resultat ist kein exakter Wert, aber eine gute Näherung, die sich rasch und mit geringem Fehlerrisiko ermitteln lässt. Heute finden wir logarithmische Darstellungen vor allem noch in der Wissenschaft, etwa beim pH-Wert oder bei der bekannten Richterskala, die die Stärke von Erdbeben misst: Ein Erdbeben der Stärke sieben ist tausendmal stärker als ein Beben der Stärke vier.
Zu einer Zeit, zu der es weder Taschenrechner noch Computer gab, erlaubte das Rechnen mit Potenzen schlicht und ergreifend viel Zeit zu sparen. (Der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749-1827) meinte sogar, dass sich durch Napiers Logarithmen die Lebenszeit der Astronomen verdoppelt habe.) Dies ist letztlich der Grund, warum wir uns auch heute noch in der Schule jahrelang mit kleinsten gemeinsamen Vielfachen, größten gemeinsamen Teilern, Kürzen von Brüchen und binomischen Formeln abmühen: In allen Fällen handelt es sich ursprünglich um historisch wichtige Verfahren, mit denen sich der Umgang mit den vier Grundrechenarten vereinfachen und lange Rechenwege abkürzen ließen. Noch heute können wir daraus lernen, in welchen Beziehungen die Zahlen zueinander stehen.
Der großartige kleine Gauß
Auf einen besonders schönen Rechentrick verfiel der siebenjährige (nach anderen Quellen neunjährige) Carl Friedrich Gauß, als sein Volksschullehrer – der wahrscheinlich nur ein bisschen Ruhe haben wollte – die Klasse aufforderte, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Gauß kam schon nach wenigen Minuten mit der richtigen Antwort: 5050. Er hatte erkannt, dass die erste und die letzte Zahl der Reihe, die zweite und die vorletzte, die dritte und die drittletzte und so weiter, zusammen jeweils 101 ergeben. Insgesamt gibt es 50 solcher Zahlenpaare. In ihrer allgemeinen Form lautet die Gaußsche Summenformel bis zur Zahl n aufaddiert:
Für n =100 ergibt sich also:
Die Kette 1 + 2 + 3…+ 98 + 99 + 100 besteht, einschließlich der Operanden, aus 199 Zeichen (entsprechend mehr für größere Summen). Gauß‘ Formel reduziert den Zahlenbandwurm auf nur neun Zeichen, die uns umgehend zum Ziel führen.
Die Arithmetik kann uns daher auch noch in Zeiten des Taschenrechners wichtige Kernkompetenzen vermitteln: Zusammenfassen, Vermindern, Reduzieren, Verdichten, Verallgemeinern. So erlaubt sie es uns, trotz zahlloser Bäume den mathematischen Wald nicht aus den Augen zu verlieren.
Bildnachweise
Wer mehr wissen will:
Beutelspacher, Albrecht (2010): „Kleines Mathematikum“, C.H. Beck.
Die Gauß-Anekdote
[i] Das ist auch das entscheidende Argument, warum die Eins heute allgemein nicht mehr als Primzahl gesehen wird, obwohl auch sie nur durch eins und sich selbst teilbar ist. Würde man sie zu den Primzahlen zählen, wäre die Eindeutigkeit der Primfaktorenzerlegung verloren: 4 ließe sich dann nicht nur als 2 · 2, sondern auch als 2 · 2 · 1 oder 2 · 2 · 1 · 1 darstellen.
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