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Der logische Vierklang

Zufallsfund in Alexandria

Der Papyrus Rhind zählt heute zu den großen Schätzen des Britischen Museums. Benannt ist er nach dem jung verstorbenen schottischen Anwalt Alexander Henry Rhind, der ihn 1858 in den engen, staubigen Gassen von Luxor aufgestöbert hatte. Rhind war wegen eines Lungenleidens nach Ägypten gekommen. Die trockene Luft, die seinen Atemwegen guttat, hatte auch altes Wissen erhalten: Die umfangreiche und vielseitige mathematische Aufgabensammlung, die er fand, gibt uns einen faszinierenden Einblick in das hoch entwickelte Mathematikverständnis der frühen Kulturen im Fruchtbaren Halbmond, ohne das Leistungen, wie der Bau der Pyramiden undenkbar gewesen wären. Der Papyrus macht aber auch deutlich, dass sich dieses Verständnis von unserem heutigen noch grundlegend unterschied. Die Auseinandersetzung mit den Zahlen hatte einen handwerklichen Charakter. Mathematische Behauptungen waren dann gültig, wenn sie sich mit Beobachtungen deckten. Vermutete Zusammenhänge, wie der bereits bekannte Satz des Pythagoras, wurden experimentell überprüft.



Ein dunkles Bild aus dem Barock, auf dem ein Mann mit Bart eine aufgeschlagene Schrift präsentiert
Ein finsteres Bild einer erhellenden Person: So stellte sich der spanische Barockmaler Jusepe de Ribera den alten Euklid vor

Euklid

Wenn uns diese Vorgehensweise heute befremdlich anmutet, liegt das an Euklid von Alexandria. Über das Leben des Griechen um das Jahr 300 v. Chr. ist fast nichts bekannt, doch wir dürfen davon ausgehen, dass er in der hellenistischen Metropole am Nil mit dem mathematischen Wissen der Ägypter und anderer Völker der antiken Welt in Berührung kam. Euklid etablierte eine neue Betrachtungsweise, die sich nicht mehr mit der empirischen Überprüfung von Vermutungen zufriedengab. Das neue Denken war Ausgangspunkt einer tiefgreifenden Revolution, die unser Mathematikverständnis bis heute prägt.


 

Alles eigentlich ganz logisch…

Den strukturierten Weg zur mathematischen Wahrheit fand Euklid in der philosophischen Disziplin der Logik. Auf ihrer Grundlage beschrieb er erstmals eine Methode, nach der seitdem mathematisches Wissen dargestellt, überprüft und weiterentwickelt wird. Dargelegt hat er sie in seinem Werk „Die Elemente“, einem der bis heute größten Bestseller der Wissenschaftsgeschichte. Allein seit Erfindung des Buchdrucks wurde es mehr als tausendmal aufgelegt und für die Studenten Europas und des Vorderen Orients war es von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das Standardwerk für Geometrie.


Ein Bild aus dem 19. Jahrhundert: ein steng dreinblickender junger Mann mit Vollbart
Alexander Henry Rhind, der Entdecker des nach ihm benannten Papyrus. Ähnlichkeiten mit Euklid sind rein zufällig

Euklids Vorgehensweise beruht auf drei Pfeilern: Der erste Pfeiler sind Definitionen. Sie beschreiben das betrachtete Objekt rein sprachlich. Der zweite Pfeiler besteht darin, Vermutungen über Eigenschaften des definierten Objekts zu formulieren. Der dritte Pfeiler ist deren logische Überprüfung. Gelingt sie, ist ein Beweis erbracht – er erhebt die Vermutung in den Rang eines mathematischen Satzes.

Die Definition eines Objekts kann etwa ganz einfach lauten: „Ein Rechteck ist ein Viereck, dessen Innenwinkel alle rechte Winkel sind.“ Eine Vermutung, die man über das Rechteck anstellen kann, wäre beispielsweise: „Die Summe der Innenwinkel eines Rechtecks beträgt 360°“. Da ein rechter Winkel 90° hat, ist die Aussage leicht zu beweisen. Doch das erklärt weder, was ein Viereck und ein rechter Winkel ist, noch warum letzterer immer 90° hat. Der Beweis baut also auf anderen Definitionen und Aussagen auf, die ihrerseits erst definiert und bewiesen sein müssen, bevor sich ein mathematisches Theorem aus ihnen ableiten lässt. Auf diese Weise wird die gesamte Mathematik zu einer komplexen Hierarchie von aufeinander aufbauenden Definitionen und logischen Beweisführungen.


Ein alter, löchriger Payprus mit Hieroglyphen
Der Payprus Rhind

Das Ende des „Warum?“

Wo aber ist das Fundament, das die Pfeiler dieser Argumentationskette trägt? Hier kommen die Axiome ins Spiel. Sie stellen die unterste Ebene der Hierarchie dar, die Statik des gesamten Konstrukts hängt von ihnen ab. Axiome sind einfache Aussagen, die sich unmittelbar nachvollziehen lassen und daher keines Beweises mehr bedürfen. Sie sind unstrittig, weil sie der Anschauung und damit letztlich dem „gesunden Menschenverstand“ entsprechen. So wie die Aussage: „Eine Gerade ist in einem Raum der kürzeste Weg zwischen zwei voneinander verschiedenen Punkten.“ Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die meisten Axiome uns etwas darüber sagen, wie wir den Raum wahrnehmen. Ohne Raum ist Mathematik nicht vorstellbar; nur weil es ihn gibt, können die Objekte unserer Betrachtung existieren und unterschieden werden.


Kinder stellen gerne „Warum-Fragen“. Gibt man ihnen eine Erklärung, fragen sie nach dem Warum der Erklärung. Irgendwann kommt der Punkt, wo man – vielleicht ein bisschen hilflos – sagt: Weil es einfach so ist! Genauso ist es mit den Axiomen. Sie sind nicht weiter zerlegbar. Sie enthalten keine Beschreibung mehr, sondern stellen nur noch Anforderungen an den beschriebenen Gegenstand. Nur Axiome, Definitionen und bereits bewiesene Sätze stehen zur Verfügung, um Vermutungen zu bestätigen und so mathematisches Wissen zu erweitern. Das Zusammenspiel von Axiom, Definition, Vermutung und Beweis ist der Vierklang unseres heutigen Mathematikverständnisses.

Ein reich bebilderter Buchdruck aus dem 16. Jahrhundert mit vielen allegorischen Figuren
Eine englische Übersetzung von Euklids "Elemente" aus dem Jahr 1570

 

Mathematik ist keine empirische Wissenschaft

Die mathematische Beweisführung hat Entsprechungen in den anderen Wissenschaften: Der Vermutung entspricht die Hypothese, der Beweis dem Experiment, der Satz der Theorie. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die von den Griechen eingeführte Methodik keine empirische, sondern allein eine philosophische Überprüfung voraussetzt, einen rein logisch hergeleiteten Nachweis, der nur eine Interpretation zulässt. Wissenschaftliche Theorien haben hingegen ein Verfallsdatum; ihre Erkenntnisse sind immer nur vorläufig und können jederzeit durch neue Einsichten widerlegt werden. (Ein schönes Beispiel dafür ist der Wechsel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild.) Den mathematischen Gesetzen aber mutet etwas Ewiges, Absolutes an. Es ist die Widerspruchsfreiheit, die ihnen ihre unglaubliche Haltbarkeit verleiht und Welterklärungswerkzeuge von erstaunlicher Stabilität entstehen lässt – wobei Widerspruchsfreiheit noch nichts über Wirklichkeit aussagt. Dass ein logischer Beweis nach Jahrtausenden noch genauso gültig ist, wie an dem Tag, an dem er zum ersten Mal erbracht wurde, verleiht der Mathematik eine Einzigartigkeit und Faszination, die sie – zumindest für viele Mathematiker – zur reinsten und schönsten aller Wissenschaften macht, zu der Disziplin, die sich der Wahrheit an weitesten anzunähern vermag.


Vor 2.300 Jahren haben die Griechen aus einer Erfahrungswissenschaft eine abstrakte Kunst gemacht. Von diesem festen Fundament aus ließen sich nun, wie wir noch sehen werden, nach und nach die Geheimnisse der verschiedenen mathematischen Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Algebra, Analysis und Stochastik erforschen


 

Wer mehr wissen will:

Euklid (2003) „Die Elemente“, Harri Deutsch.

Beutelspacher, Albrecht (2010): „Kleines Mathematikum“, C.H. Beck.

Courant, Richard / Robbins, Herbert (2010): „Was ist Mathematik?“, Springer.

Pickover, Clifford A (2014): „Das Mathebuch“, Librero.


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