Ein Rechenfehler schreibt Geschichte
Die Entdeckung Amerikas war die Folge einer simplen Fehlkalkulation. Bei der Berechnung des westlichen Seewegs nach Indien hatte Christoph Kolumbus den Angaben des Bagdader Astronomen al-Farghani vertraut, dabei jedoch übersehen, dass dieser den Erdumfang nicht in römischen, sondern in den wesentlich längeren arabischen Meilen angegeben hatte. Ohne diesen Irrtum wäre Kolumbus wohl kaum in See gestochen, seine Nussschalen hätten die gewaltige Strecke unmöglich bewältigen können.
Mit Beginn der Neuzeit fing Mathematik an, Geschichte zu schreiben. Bis ins späte Mittelalter hinein mutete ihr noch die Aura einer Geheimwissenschaft an, in die nur wenige Gelehrte – das hieß damals Mönche, Philosophen und Universitätsprofessoren – eingeweiht waren. Dass Mathematik auch für Seefahrer, Kaufleute, Verwalter, Baumeister und Handwerker zu einem unentbehrlichen Werkzeug wurde, ist ein Phänomen der Neuzeit. Rechenmeister, wie der sprichwörtlich gewordene Adam Ries, erkannten diesen steigenden Bedarf. Ries schrieb Anfang des 16. Jahrhunderts ein populäres Standardwerk der Arithmetik, gründete eine Rechenschule und half so tatkräftig mit, die Europäer von ihrem unhandlichen römischen Zahlensystem zu erlösen.
Schwer zu fassendes Angstfach
Rund 500 Jahre später hat die Mathematik sehr beeindruckende Fortschritte erzielt; gleichzeitig hat sie sich aber auch zum Angstfach Nummer eins für Schüler entwickelt, die mit der Frage konfrontiert werden, was denn nun „nach Adam Ries(e) das Ergebnis einer bestimmten Rechenoperation sein soll. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman beschreibt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ die physiologischen Konsequenzen der menschlichen Begegnung mit Mathematik: Pupillen weiten sich, Muskeln spannen sich an, Blutdruck und Herzfrequenz steigen!
Aber auch nach jahrtausendelanger Beschäftigung wissen wir immer noch nicht, was diese Wissenschaft, auf die unser Körper wie auf einen Säbelzahntiger reagiert, denn nun genau sein soll.

Die Etymologie, die Lehre von der Wortherkunft, hilft uns hier leider nicht weiter. Das altgriechische Wort „máthēma“ bedeutet so viel wie „das, was gelernt wurde“ und ließe sich auch im weiteren Sinne mit dem allgemeineren Wort „Wissenschaft“ umschreiben.
Die „Lehre von den Zahlen“ greift als Erklärung zu kurz, denn zur Mathematik gehört auch die Geometrie und die lässt sich auch lediglich mit Zirkel und Lineal, also ganz ohne Zahlen betreiben.
Natur oder Geist?
Wir wissen auch nicht so recht, wo wir Zahlen und geometrische Figuren im System der Wissenschaften überhaupt verorten sollen – die Mathematik scheint nirgendwo auf der Welt einen festen Platz zu haben. Während Galileo Galilei in ihr die universelle Sprache zu erkennen glaubt, in der die Natur zu uns spricht, ist sie für den Mathematiker Leopold Kronecker die Geisteswissenschaft par excellence, ein Universum der Abstraktion, dessen Wahrheitsgehalt allein auf menschengemachten Regeln basiert. Das große Mysterium ist, dass sie tatsächlich beides zu sein scheint: Natur und Geist. Der realen dinglichen Welt sind überall Grenzen gesetzt – ganz gleich, ob wir ökonomische Ressourcen oder physikalische Phänomene wie die Lichtgeschwindigkeit oder die Größe des Universums betrachten. Die Mathematik aber kann diese Beschränkungen einfach ignorieren. Sie rechnet gerne mit der Unendlichkeit, dem unendlich Kleinen, dem unendlich Großen. Wie wir noch später in diesem Blog noch sehen werden, kann sie mit dieser höchst irrealen Vorstellung höchst reale Dynamiken unserer Welt einfangen und exakt beschreiben.
Sagt Mathematik die Zukunft vorher?
Die verblüffenden Fähigkeiten der Mathematik gehen aber noch weiter: Als Bernhard Riemann1854 in Anwesenheit des greisen Carl Friedrich Gauß seine „Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ vorstellte, glaubte niemand, auch Riemann selbst nicht, dass seine Idee vieldimensionaler Räume einen praktischen Nutzen haben könnte. Alle sahen in ihr vielmehr eine rein gedankliche Spielerei. Doch rund 60 Jahre später erkannte Albert Einstein in Riemanns Geometrie das Werkzeug, das ihm die korrekte Beschreibung der allgemeinen Relativitätstheorie ermöglichen würde. Dies zeigt nicht nur, dass Mathematik und Physik beste Freunde sind, wir begegnen hier auch einem weiteren großen Geheimnis der Mathematik: Eine logisch-philosophische, vermeintlich zweckfreie „Spielerei“ hatte sich im Nachhinein als höchst nützliches Werkzeug entpuppt.

Tatsächlich ist die Mathematikgeschichte voller solcher Entdeckungen: Der von Leibniz gefundene Binärcode gibt heute den Computern den Takt vor; die ursprünglich fruchtlose Zahlentheorie ist Grundlage der Internetsicherheit; Ingenieure können ohne imaginäre Zahlen nicht mehr arbeiten und Fibonaccis Folge enträtselt universelle Wachstumsmuster. Der Physik-Nobelpreisträger Eugene Wigner bezeichnete dieses Phänomen als „die unglaubliche Wirksamkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften“.
Eine einzigartige Methode, Wissen zu gewinnen
Mathematik unterscheidet sich von allen anderen Wissenschaften durch ihre Art Wissen zu gewinnen: Während in den Natur- und Sozialwissenschaften Hypothesen erstellt und anhand von empirischen Daten überprüft werden, wird mathematisches Wissen, wie wir in einem der kommenden Beiträge sehen werden, allein anhand eines streng logischen Prozesses, der auf Axiomen, Definitionen, Vermutungen und Beweisen beruht, weiterentwickelt. Während wissenschaftliche Theorien immer nur vorläufige Erkenntnisse erzeugen, gewissermaßen ein Verfallsdatum haben, da sie jederzeit durch neue Einsichten widerlegt werden können, haftet den mathematischen Gesetzen etwas Ewiges, Absolutes an. Es ist ihre logische Widerspruchsfreiheit, die ihnen ihre unglaubliche Haltbarkeit verleiht und damit Welterklärungswerkzeuge von erstaunlicher Stabilität entstehen lässt.
Was ist also Mathematik?
Demzufolge gibt es heute auch keine allgemein akzeptierte Definition von Mathematik. Etwas, das allerdings sowohl der geistes- als auch der naturwissenschaftlichen Perspektive gemein ist, ist dass es immer um die Erkennung und Beschreibung von Mustern geht. Arithmetik, Geometrie, Algebra, Analysis und Stochastik sind ausgesprochen nützliche

Werkzeuge, um die physikalischen, aber auch die geistigen und sozialen Prozesse um uns herum zu beschreiben und damit für uns fassbar zu machen. Wenn wir den mathematischen Beitrag zur Welterklärung verstehen wollen, müssen wir uns also auf eine Gratwanderung zwischen Natur und Geist begeben. Doch wenn wir uns darauf einlassen und Vokabular und Grammatik dieser universellen Sprache erlernen, erhalten wir Zugriff auf eine faszinierende Werkzeugkiste voller einmaliger Weltbeschreibungsinstrumente.
Wer mehr wissen will:
Kahneman, Daniel (2011): „Schnelles Denken, langsames Denken“, Siedler. S. 32
Beutelspacher, Albrecht (2010): „Kleines Mathematikum“, C.H. Beck. S. 13 f.
Enzensberger, Hans Magnus (1998): „Die Mathematik im Jenseits der Kultur - Eine Außenansicht“ in: FAZ vom 29.08.1998.
Courant, Richard / Robbins, Herbert (2010): „Was ist Mathematik?“, Springer.
Wer hat je gedacht wie wichtig eine Null ist.
Danke