Newton und Leibniz reisen in die Unendlichkeit
- Jens Bott
- 31. Mai
- 8 Min. Lesezeit
Newton und Leibniz reisen in die Unendlichkeit
Im 17. Jahrhundert hatte die wissenschaftliche Revolution bereits beachtlich an Fahrt aufgenommen; die Naturphilosophen drangen immer tiefer in die materielle Ordnung der Welt ein. Schon bald zeigte sich, dass die mathematische Beschreibung rein statischer Zustände hierzu nicht mehr ausreichte. Um das Jahr 1670 stellten sich daher zwei große Geister, Isaac Newton (1643-1727) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), unabhängig voneinander sehr grundsätzliche Fragen. Newton war bei einer recht einfachen Naturbeobachtung, dem Fall eines Apfels, auf ein Phänomen gestoßen, bei dem ihn die bekannten Werkzeuge der Algebra und Geometrie im Stich ließen. Der Apfel fällt keinesfalls gleichförmig, sondern zu Beginn langsamer, am Ende seiner Bahn aber schneller. Während des Falls erhöht sich die Geschwindigkeit kontinuierlich: In jedem noch so winzigen Augenblick ist sie grösser, als im vorangegangenen Moment. Wie ließ sich dieses Verhalten mathematisch korrekt beschreiben?

Newton machte sich daran, das fehlende Rechenwerkzeug, selbst zu bauen. Dabei bediente er sich eines überaus dreisten Taschenspielertricks. Sein Kunstgriff gilt heute als die Geburtsstunde der Analysis, der Mathematik, mit der man all jenen Erscheinungen zu Leibe rückt, bei denen sich die Bedingungen laufend ändern. Die neue Methode war keine bloße Weiterentwicklung von Algebra und Geometrie, sie war eine grundsätzlich neue Art die Welt zu betrachten und ihre Dynamik einzufangen. Algebra und Analysis verhalten sich zueinander wie Foto zu Film. Die Mathematik hatte laufen gelernt.
Newtons Geniestreich bestand darin, die Wechselhaftigkeit der Welt mithilfe einer Rechengröße einzufangen, für die es keine Zahl gibt: die Unendlichkeit. Um seinen Gedankengang nachzuvollziehen, müssen wir zunächst das Wesen von Funktionen betrachten. Funktionen sind Abbildungen von Zusammenhängen zwischen variablen Größen. Üblicherweise wird dabei die unabhängige Variable (Ursache) mit x und die abhängige Variable (Wirkung) mit y bezeichnet. Man kann dann sagen y ist eine Funktion, eine Abbildung, von x oder kurz: y = f (x).

Was sind eigentlich Funktionen und welchen Beitrag leisten sie zur Welterklärung?
Funktionen sind Rechenanweisungen, die algebraisch darstellen, wie das eine vom anderen abhängt, gewissermaßen der Klebstoff, der Zahlenmengen miteinander verbindet. Damit lassen sich Annahmen über die Beschaffenheit der Welt mathematisch beschreiben: Die Umlaufbahnen der Planeten sind abhängig von der Gravitation, die Geschwindigkeit eines Segelschiffs von der Windstärke, der Treibstoffverbrauch eines Autos von seinem Gewicht, das Pflanzenwachstum von der Intensität der Sonnenstrahlen, die Nachfrage vom Preis.[i] Wer die Welt beschreiben möchte, muss nach Funktionen suchen, die diese Zusammenhänge abbilden.
Betrachten wir beispielhaft zwei denkbar einfache Abhängigkeiten:

y = x besagt, dass der abhängige Wert dem unabhängigen genau entspricht. Wendet man diese Funktionsvorschrift auf die unendliche Menge der reellen Zahlen an, und überträgt sie in ein kartesisches Koordinatensystem, erhält man den Funktionsgraphen, eine Gerade, die von links unten nach rechts oben ansteigt. Der Funktionsgraph macht den Zusammenhang geometrisch sichtbar und somit anschaulich. Die Steigung der Funktion ist leicht zu beschreiben: Immer, wenn man, wie auf einer Treppe, eine Einheit nach rechts und eine Einheit nach oben geht, stößt man wieder an die Linie des Funktionsgraphen. Die Steigung, der Quotient aus Höhe und Tiefe der Stufen, beträgt also stets „1“, ganz gleich, welchen Punkt der Geraden wir betrachten.
Bei der zweiten Funktion, y = x^2, kommen wir mit der Treppen-Metapher jedoch sofort ins Stolpern, denn die Höhe jeder Treppenstufe verändert sich nun von Schritt zu Schritt. Der Funktionsgraph ist Kurven zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Steigung an jedem Punkt eine andere ist.
Lineare und exponentielle Funktionen leisten sehr unterschiedliche Beiträge zu unserem Weltverständnis. Unsere Wahrnehmung und Intuition ist von linearem Denken geprägt. Das entspricht unserer Alltagserfahrung und der evolutionären Prägung der letzten Jahrhunderttausende: Wir benötigen einen Tag, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen und zwei Tage für die doppelte Strecke. Wenn wir ein Feld an einem Morgen bestellen, brauchen wir drei Vormittage für drei ähnlich große Felder und fünf Rinder fressen fünfmal so viel Heu wie ein Rind.
Exponentielle Zusammenhänge hingegen sind Ausdruck von Wachstums- und Zerfallsprozessen, wie sie uns vielfach in der Natur begegnen: Erdbeschleunigung, Radioaktivität, Bakterienkolonien, Kaninchenpopulationen, Weltbevölkerung. Sie finden sich aber auch in kulturellen und technischen Zusammenhängen, etwa bei Infektionsraten, Zinsen oder dem Wachstum von Informationsspeicherkapazitäten auf Computerchips.
Sind wir mit exponentiellen Verläufen konfrontiert, ist unsere Intuition dahin. Eine Kugel, die mit doppelter Geschwindigkeit aufschlägt, verdoppelt ihre Wirkung nicht, sondern vervierfacht sie. Die dreifache Geschwindigkeit führt bereits zu einem neunfach verstärkten Effekt. Wir neigen dazu, exponentielles Wachstum zu unterschätzen, insbesondere weil der anfänglich flache Kurvenverlauf von einer linearen Entwicklung kaum zu unterscheiden ist. Doch haben exponentielle Prozesse erst einmal Fahrt aufgenommen, geraten sie sehr schnell außer Kontrolle. Das bekannte Beispiel, das harmlos mit einen Reiskorn auf dem ersten Feld eines Schachbretts beginnt und bei dem sich die Körnerzahl mit jedem neuen Feld verdoppelt, führt dazu, dass sich auf dem letzten Feld eine Reismenge türmt, für deren Abtransport man einen Zug von über 100 Millionen Kilometern Länge bräuchte. Ließe sich ein Blatt Papier 42-mal hintereinander falten, so würde seine Höhe von der Erde bis zum Mond reichen. Die Evolution hat uns das intuitive Verständnis für Wachstumsdynamiken nicht in die Wiege gelegt. Allein die Mathematik kann uns hier auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Ein unerhörter Taschenspielertrick
Doch zurück zu Newtons Problem. Ihn beschäftigte die Frage, wie sich die laufend ändernde Steigung von Exponentialfunktionen für einen beliebigen Punkt ermitteln lässt. Seine Idee leuchtet jedem ein, der schon einmal das Meer betrachtet hat: Der Horizont erscheint uns als eine gerade Linie.

Tatsächlich aber ist er gekrümmt; wir nehmen es nur deshalb nicht wahr, weil wir lediglich einen sehr kleinen Ausschnitt des Erdumfangs sehen. Diesen Gedanken können wir auf die Kurve übertragen: Dazu legen wir eine Gerade so durch einen Kurvenabschnitt, dass sie den Funktionsgraphen in zwei Punkten schneidet. In der Geometrie spricht man in diesem Fall von einer Sekante.

Der Sekantenabschnitt innerhalb der Kurve lässt sich als Hypotenuse – die längste Seite eines rechtwinkligen Steigungsdreiecks – betrachten. Sie beschreibt die Steigung zwischen den beiden Schnittpunkten. Im Durchschnitt steigt die Gerade genauso stark wie der durch sie begrenzte Kurvenabschnitt, nur, dass die Gerade gleichmäßig ansteigt, während das Kurvensegment zunächst weniger stark, dann aber stärker als die Gerade zunimmt. Nähern wir nun die beiden Schnittpunkte einander an, indem wir etwa den unteren Punkt entlang der Kurve nach oben schieben, wird das Steigungsdreieck zunehmend kleiner. Damit wird es immer schwieriger, einen Unterschied zwischen der Hypotenuse des Steigungsdreiecks und dem durch sie definierten Kurvenabschnitt auszumachen; der Fehler, der durch die Krümmung der Linie entsteht, wird, wie beim Meereshorizont, in dem Maße kleiner, in dem wir den betrachteten Abschnitt verringern. Gleichzeitig wird das Verhältnis der beiden kurzen Dreieckseiten – der so genannte Differenzenquotient – grösser, denn die Kurve steigt im Verlauf ja immer stärker an. Wenn wir nun den unteren Punkt so weit nach oben schieben, dass er sich mit dem oberen Punkt deckt, verschwindet das Dreieck. Die Sekante ist zu einer Tangente geworden: Die Steigungsgerade schneidet die Kurve jetzt nicht mehr, sondern berührt sie nur noch in einem einzigen Punkt.

In dem Augenblick, in dem aus der Sekante eine Tangente wird, ist die Länge der beiden kurzen Dreiecksseiten null; mit diesem Übergang wird aus dem Differenzenquotient der „Differenzialquotient“ – er gibt uns die Steigung der Kurve am Tangentenpunkt an. Das ist der ganze Trick! Durch Umformung des Differenzialquotienten lässt sich zeigen, dass die Steigung für einen beliebigen Kurvenpunkt als eine neue Funktion – die so genannte Ableitung der ursprünglichen Kurvenfunktion – dargestellt werden kann. Beispielsweise erhält man die Ableitung einer Funktion der Form y = x^n, indem man den Exponenten n der unabhängigen Variablen x um eins verringert und n vor die Variable schreibt. Die erste Ableitung unserer Funktion y = x^2 lautet also y = 2x^1. Wir können nun beliebige Werte entlang der x-Achse einsetzen und für jeden dieser Werte die Steigung am entsprechenden Kurvenpunkt ermitteln. Am Punkt x = 0 ist, wie sich direkt aus dem Funktionsgraphen ablesen lässt, die Steigung null. An der Stelle x = 0,5 beträgt die Steigung 1, an der Stelle 2 beträgt sie 4.
Ein neues Werkzeug der Weltbeschreibung
Die Differenzialrechnung war das Werkzeug, das bisher gefehlt hatte. Ihr genialer Kunstgriff ist die Einbindung eines irrealen Konstrukts – der Vorstellung eines unendlich kleinen Dreiecks – um ein höchst reales Problem zu lösen. Auch bei der Differentialrechnung lässt sich die Perspektive umkehren: Dies führt uns zur Integralrechnung, die es uns beispielsweise erlaubt, die Größe der Fläche unterhalb einer Kurve zu bestimmen.

Die grundlegende Überlegung ist die gleiche. Betrachten wir dazu die Fläche, die seitlich durch die beiden senkrechten Geraden an den Stellen a und b, unten durch die x-Achse und oben durch die Kurve begrenzt wird: Wäre diese Fläche rechteckig, ließe sie sich rechnerisch leicht bestimmen. Wenn wir die Fläche mit kleinen Rechtecken ausfüllen, erhalten wir immerhin einen Näherungswert. Was die Methode jedoch ungenau macht, sind die weißen Flächen unter der Kurve. In dem Maße, in dem wir nun die Rechtecke weiter verkleinern, verringern wir diese Unschärfe. Die weißen Flächen unter der Kurve schrumpfen und nähern sich zunehmend einer Dreiecksform, die wir schließlich mit dem bereits bekannten Unendlichkeits-Trick verschwinden lassen können.[ii] Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, was wir gerade getan haben: Wir haben unendlich viele, unendlich kleine Flächen addiert und erhalten so eine Zahl, die uns eine reale Fläche unter einer Kurve angibt.

Da Leibniz unabhängig von Newton fast zur gleichen Zeit dieselbe Idee hatte, gerieten die beiden über die Urheberschaft der Infinitesimalrechnung in einen langjährigen, erbitterten Prioritätsstreit, bei dem fast jedes Mittel recht war, um den anderen zu diskreditieren – ganz offenbar sind auch Mathematiker nur Menschen.[iii] Die Wissenschaft hielt jedenfalls am Ende des 17. Jahrhunderts ein neues, mächtiges Werkzeug in der Hand, mit dem sich die zahllosen Windungen, Wellen und Wachstumsprozesse der Natur korrekt beschreiben ließen. Newton konnte nun die Geschwindigkeit des sich beschleunigenden Apfels für jeden Zeitpunkt exakt berechnen und so dem Gesetz der Gravitation auf die Spur kommen.

Alles unter Kontrolle?
Die Möglichkeit, Naturgesetze mathematisch exakt darstellen zu können, eröffnete neue Perspektiven: Auch künftige Ereignisse ließen sich nun verlässlich prognostizieren. Der mathematische Fortschritt befeuerte ein Euphorie, die Hoffnung, die Welt mithilfe der Mathematik vollständig beschreiben zu können. Der Franzose Pierre-Simon Laplace spann diesen Gedanken weiter. 1814 ersann er einen fiktiven, allwissenden Weltgeist, der sämtliche Kausalitäten des Universums in Form von Funktionsgleichungen erfassen und simultan verarbeiten kann. Rein theoretisch ließ sich damit die Bewegung aller Materie und damit die Zukunft der Welt bis an ihr Ende vorausberechnen. Der Laplacesche Dämon – wir würden ihn heute als „Supercomputer“ bezeichnen – wurde zum Leitmotiv eines deterministischen Weltbilds, das neben den Naturphilosophen bald auch das Denken von Militärs, Sozialutopisten und Ökonomen bestimmen würde: Warum sollte nicht auch menschliches Handeln mathematisch beschreibbar und somit prinzipiell berechenbar sein? Einmal mehr verhieß Mathematikbeherrschung Macht. Doch es gab da noch ein kleines Problem: Bislang hatte man die Rechnung ohne den Zufall gemacht...
Wer mehr wissen will:
Hall, A. Rupert (1980): „Philosophers at war – The quarrel between Newton and Leibniz“, Cambridge University Press.
Courant, Richard / Robbins, Herbert (2010): „Was ist Mathematik?“, Springer.
Beutelspacher, Albrecht (2010): „Kleines Mathematikum“, C.H. Beck.
Enzensberger, Hans Magnus (1998): „Die Mathematik im Jenseits der Kultur - Eine Außenansicht“ in FAZ vom 29.08.1998.
Bildnachweise:
Anmerkungen
[i] In der Realität gibt es fast immer mehrere Einflussgrößen. Der Treibstoffverbrauch eines Fahrzeugs ist etwa auch von der Geschwindigkeit abhängig. Praktischerweise konzentriert man sich aber auf einen Parameter und unterstellt die anderen als konstant.
[ii] Während bei der Differentialrechnung über die Ableitung die Steigungsfunktion aus der Kurvenfunktion „f“ hergeleitet wird, geht es bei der Integralrechnung umgekehrt darum, die so genannte Stammfunktion zu „F“ zu ermitteln. Die Stammfunktion ist jene Abbildung, die abgeleitet die Ausgangsfunktion „f“ ergibt. Eine Stammfunktion für y = x^2 könnte beispielsweise y = 1/3 x^3 + 7 lauten. Das Integral lässt sich nun ganz einfach bestimmen, indem man die Werte für a und b als untere und obere Grenze in die Stammfunktion einsetzt und dann den Wert für a von dem Wert für b abzieht: . Ist b = 4 und a = 2, erhält man für b 1/3 4^3 = 21,3333... , für a = 1/3 2^3 = 2,6666.... Die Differenz ergibt das bestimmte Integral von 18,66666... . Die Fläche unter der Kurve beträgt also 18,66666... Flächeneinheiten.
[iii] Zur Geschichte dieses Streits siehe Hall (1980).
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