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Idee und Form – eine kurze Geschichte der Geometrie

Autorenbild: Jens BottJens Bott

 

Idee und Form

Das griechische Wort „Mathematik“ lässt sich etwas diffus mit „Wissen“, „Studieren“ oder auch „Lernen“ übersetzen. Geometrie bedeutet im Griechischen hingegen schlicht „Landvermessung“ – ein für die Vermittlung von Weltbildern besonders nützlicher Begriff. Die Geometrie ist die anschaulichste aller mathematischen Disziplinen und kommt zudem ganz ohne Zahlen aus.


Mittelalterliche Miniatur eines Geometrikers mit einem großen Zirkel
Die Vermessung der Welt war schon immer ein Thema

Auch der Ursprung der Geometrie liegt in den frühen Flusskulturen. Sie standen vor der Notwendigkeit, Acker- und Weideland nach den jährlichen Überschwemmungen neu aufteilen zu müssen. Die mathematischen Techniken, die damals an Euphrat, Nil, Indus und Gelbem Fluss entstanden, finden bis heute bei Architekten, Ingenieuren und Landvermessern Anwendung. Mit der Zeit offenbarten sich den Ackerbauern bestimmte Muster. So fanden sie heraus, dass zwei quadratische Felder mit einer Länge von jeweils 30 und 40 Schritten, zusammen genauso viel Arbeit machen, wie ein Feld mit einer Länge von 50 Schritten. Abermals waren es die Griechen, die den Fragen der Landvermessung als Erste systematisch nachgingen. Den Punkt, Anfang aller Geometrie, definierte Euklid als „das, was keine Teile hat“. Bewegt sich der dimensionslose Punkt durch den Raum, lässt er Linien, Dreiecke, Kreise, Quadrate, Kugeln oder Dodekaeder entstehen. Wie die Zahl „i“ oder die Unendlichkeit haben auch diese geometrischen Figuren keine Entsprechung in der realen Welt. Doch darum geht es auch nicht. Es geht um die „Idee“ des Kreises, um die Vorstellung eines Konstrukts bei dem sämtliche Punkte denselben Abstand zum Mittelpunkt haben – auch wenn sich in der Natur nichts findet, was diese Bedingung genau erfüllen würde. Für die Griechen waren die perfekten Flächen und Körper Ausdruck kosmisch-göttlicher Ordnungsprinzipien, die unveränderlich und zeitlos in jedem Winkel des Universums ihre Gültigkeit haben – eine Vorstellung, die, wie wir noch sehen werden, in der Philosophie Platons eine zentrale Rolle spielt.



Der geheimnisvolle Kreis

Von Euklid sind eine Reihe geometrischer Aufgaben überliefert, zu deren Lösung er keine anderen Hilfsmittel zuließ als Lineal und Zirkel. Einige dieser antiken Herausforderungen mussten über 2.000 Jahre auf eine Lösung warten: Erst 1882 gelang Ferdinand von Lindemann der Beweis der Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises, der Nachweis, dass sich aus einem Kreis allein mit den beiden von Euklid genehmigten Werkzeugen kein Quadrat mit identischem Flächeninhalt konstruieren lässt. Ein besonderer Coup gelang bereits 1796 dem achtzehnjährigen Carl Friedrich Gauß, als er allein mit Lineal und Zirkel ein gleichmäßiges Siebzehneck konstruierte. Später konnte Gauß zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Konstruierbarkeit von regelmäßigen Polygonen und den Fermatschen Primzahlen gibt. Damit hatte er eine weitere unter den zahlreichen Verbindungen zwischen Geometrie und Zahlentheorie aufgedeckt.[i]


Abbildung eines 17-Ecks
Gleichmäßiges Siebzehneck: konstruierbar nur mit Lineal und Zirkel

Von weitem ähnelt ein Siebzehneck bereits einem Kreis, der geometrischen Figur, die die Menschen über die Jahrtausende hinweg wohl am meisten beschäftigt hat. Die Annäherung an die geheimnisvolle Kreiszahl  (3,141592…), das Verhältnis von Kreisumfang zu Kreisdurchmesser, vollzog sich in mehreren Etappen. Das Buch der Könige beschreibt ein Wasserbecken im Jerusalemer Tempel, dessen Durchmesser 10 Ellen betrug und von dem die Schrift berichtet, dass eine Schnur von 30 Ellen es rings umspannen konnte.[ii] Der Papyrus Rhind bezifferte das Verhältnis mit  = 3,1605, eine deutliche Verbesserung gegenüber der biblischen drei.[iii] Archimedes vermutete schließlich als Erster, dass es sich bei  um eine irrationale Zahl handeln könnte. Dem Versuch, dies zu widerlegen, widmete der Brite William Shanks Mitte des 19. Jahrhunderts 15 Jahre seines Lebens, während denen er die ersten 700 Stellen der Zahl berechnete. (Tragischerweise unterlief ihm dabei an Stelle 528 ein Fehler.) Doch weder Shanks noch irgendein Computer konnten bislang ein Muster entdecken. Bis heute bleibt  eine irrationale Zahl, bei der jede neue Nachkommastelle eine Überraschung darstellt. Und so müssen wir es wohl hinnehmen, dass wir nie ganz genau wissen können, wie groß ein Kreis tatsächlich ist. 



Geometrie ist häufig irrational

Irrationale Zahlen begegnen uns in der Geometrie regelmäßig. Die europäische Norm für Schreibpapier entspricht einem Breite-zu-Länge-Verhältnis von 1 zu √2. Auch hier versteckt sich also der Satz des Pythagoras. Die Proportion stellt sicher, dass jedes Mal, wenn das Blatt in der Mitte gefaltet wird, die Beziehung von Breite zu Länge erhalten bleibt.

Eine ganz besondere Rolle spielt auch die irrationale Zahl Φ. Als ihr Entdecker gilt der italienische Mathematiker Leonardo Fibonacci, der zu Beginn des 13. Jahrhunderts das Wachstumsmuster von Kaninchenpopulationen untersuchte. Fibonaccis Interesse an einer mathematischen Beschreibung tierischer Populationsdynamiken war Vorbote eines neuen Denkens. Mit wachsendem Interesse an wissenschaftlichen Fragen fiel auch der Mathematik eine neue Rolle zu: Mehr und mehr offenbarte sie sich nun als naturphilosophische Denksprache.


Stich eines jungen Mannes mit spätmittelalterlicher Kopfbedeckung
Fibonacci nach einer Darstellung aus dem 19. Jahrhundert

Bei der Fibonacci-Folge ergibt sich die nächste Zahl, indem man die beiden jeweils vorangegangen natürlichen Zahlen addiert, also 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 … Je weiter die Zahlenfolge fortschreitet, umso mehr nähert sich der Quotient der jeweils letzten beiden Zahlen der Zahl Φ = 1,6180339887…


Die Fibonacci-Zahlen finden sich nicht nur beim Kaninchennachwuchs: Gänseblümchen haben stets 34 oder 55, manchmal auch 89 Blütenblätter. Auch bei Sonnenblumen, Tannenzapfen, Ananasfrüchten, Schneckenhäusern, den Verzweigungen der Bronchien oder dem Größenverhältnis von mittleren zu seitlichen Schneidezähnen des Menschen finden wir die Zahl Φ. Offenbar handelt es sich um ein allgemeines Wachstumsmuster der Natur.     


Die Proportionen des Goldenen Schnitts anhand eines Muschelgehäuses, eines fünfzackigen Sterns und einer Fahne
Der „Goldene Schnitt“ in Natur und Kultur

 Fibonaccis Zahl begegnet uns allerdings nicht nur in der Natur, sondern auch dort, wo sich der Mensch seine Umwelt selbst erschafft. Denn ganz offenbar empfinden wir das irrationale Verhältnis von 1:1,618…als ausgesprochen ästhetisch. Unter der Bezeichnung „Goldener Schnitt“ begegnet es uns in der Architektur der Cheops-Pyramide, bei Flaggen, im Pentagramm und bei modernem Industriedesign. Dass Natur und Kultur denselben Mustern folgen, überrascht weniger, wenn wir bedenken, dass unsere Naturwahrnehmung tiefe Spuren in der menschlichen Seele hinterlassen hat. Die Natur prägt seit Jahrmillionen unseren Sinn für Schönheit und Harmonie.[iv] Auch unserer Vorliebe für Symmetrien macht das deutlich: In einer von Schwerkraft geprägten Welt versprechen sie Stabilität, während Asymmetrien uns meist suspekt sind. Daher weisen nicht nur die allermeisten Lebewesen, sondern auch fast alle von Menschenhand geschaffenen Objekte klare Symmetrieachsen auf.



Descartes begründet die analytische Geometrie

Eine erste entscheidende Erweiterung des klassischen Lineal-und-Zirkel-Horizonts verdanken wir dem französischen Philosophen und Mathematiker René Descartes (1596-1650). Descartes war der Erste, der Linien, Flächen und Räume systematisch mit Zahlen verband und damit die analytische Geometrie begründete. In dem nach ihm benannten kartesischen System kann mithilfe von x-, y-, und z-Achsen jedem Punkt auf einer Ebene oder im Raum eine Koordinate zugeordnet werden, die seine Position eindeutig bestimmt. Damit war es nun auch möglich, geometrische Figuren in Form von Gleichungen zu beschreiben – eine Verbindung, die die Schlagkraft der Mathematik beträchtlich erhöhte.


Gemälde Descartes aus dem 17. Jahrhundert mit langen Haaren und Spitzbart
Philosoph und Mathematiker: René Descartes


Die Zerstörung Euklids

Die wirkliche Revolution der Geometrie vollzog sich jedoch erst im 19. Jahrhundert. Gauß, der Ungar János Bolyai und der Russe Nicolai Lobatschewski entdeckten nach und nach, dass Euklid und seinen Jüngern wichtige Teile der Raumlehre bislang verborgen geblieben waren, dass es nicht nur eine, sondern verschiedene Geometrien gibt.[v] Denn für gekrümmte Flächen, wie die Oberfläche einer Kugel, sind die klassischen Axiome der Raumbeschreibung nicht mehr gültig: Eine Gerade ist auf einer gebogenen Fläche nicht mehr die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten; zwei Geraden, die am Äquator noch parallel verlaufen, schneiden sich an den Polen; die Summe der Innenwinkel des so entstandenen Dreiecks beträgt mehr als 180°. Die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie erschütterte eine über 2.000 Jahre währende vermeintliche Gewissheit, denn Euklid galt nun nur noch unter bestimmten, einschränkenden Bedingungen. Das alte Fundament war kollabiert, das Gebäude einer Geometrie gewölbter Flächen und gekrümmter Räume musste auf der Basis neuer Axiome errichtet werden. 


Stick von Riemann um 1880, Gelehrter mit Stirnglatze, imposantem Vollbart und Nickelbrille
Bernhard Riemann: Gedankenspiele mit ungeahntem Nutzen

Entscheidende Beiträge hierzu kamen von Bernhard Riemann. 1854 stellte er in Anwesenheit des greisen aber tief beeindruckten Carl Friedrich Gauß seine „Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ vor. Riemann entwarf hierin eine Vision, wie sich im kartesischen Koordinatensystem nicht nur dreidimensionale, sondern auch Räume mit beliebig vielen Dimensionen darstellen lassen.



"Die unglaubliche Wirksamkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften"

Riemann selbst und seinen Zeitgenossen galten solche Überlegungen als theoretische Gedankenspiele ohne praktischen Nutzen. Doch rund 60 Jahre später erkannte Albert Einstein in Riemanns Geometrie vieldimensionaler Räume das Werkzeug, das ihm die korrekte Beschreibung der allgemeinen Relativitätstheorie ermöglichen würde. Hier begegnen wir einem weiteren großen Geheimnis der Mathematik: Logisch-philosophische Spielereien entpuppen sich Jahrzehnte, manchmal erst Jahrhunderte später als höchst nützliche Welterklärungswerkzeuge: Der von Leibniz erfundene Binärcode gibt heute den Computern den Takt vor; die ursprünglich zweckfreie Zahlentheorie ist heute Grundlage der Internetsicherheit; Ingenieure können ohne imaginäre Zahlen nicht mehr arbeiten und Fibonaccis Folge enträtselt universelle Wachstumsmuster. Der Physik-Nobelpreisträger Eugene Wigner bezeichnete dieses Phänomen als „die unglaubliche Wirksamkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften“. Beschreibt die heutige theoretische Mathematik also die Physik der Zukunft? Können wir gar, wie Leibniz es formulierte, durch sie „einen erfreulichen Einblick in die göttlichen Ideen gewinnen"?[vi] Die Frage nach dem Wesen der Mathematik – Natur oder Geist, Entdeckung oder Erfindung – bleibt weiter offen.


 

 

Wer mehr wissen will:

Beutelspacher, Albrecht (2010): „Kleines Mathematikum“, C.H. Beck.

Simon, Max (1909): "Geschichte der Mathematik im Altertum", Cassirer

 

Anmerkungen:

 [i] Die Fermatschen Primzahlen sind Zahlen, die der Bedingung = +1 gehorchen, wobei n eine ganze Zahl  sein muss. Bis heute sind ist nur von den Zahlen 3, 5, 17, 257 und 65537 bekannt, dass sie diese Bedingung erfüllen.

[ii] 1. Könige 7,23-26.

[iii] Die vielleicht schönste Näherungsformel fand Gottfried Wilhelm Leibniz:  

Leibniz Formel

[iv] Auf ein bestechend einfaches und schönes Verhältnis wies zuerst Archimedes hin: Bei gleicher Höhe und Breite beträgt das Verhältnis der Volumina von Kegel, Kugel und Zylinder genau 1:2:3.

[v] Vgl. Hofstadter (2018), S. 21.

[vi] Leibniz (1996) S. 271 f. Vgl. dazu auch Enzensberger (1998).

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