Eine einfache Ordnung
Physik bedeutet im Griechischen so viel wie „die Lehre von der Natur“. Vor noch nicht allzu langer Zeit stellte sich diese Natur dem Menschen als eine Vielzahl chaotischer, unvorhersehbarer, oftmals verheerender Gewalten dar. Blitz, Donner, Sturm, Ebbe, Flut, Kälte, Hitze, Erdbeben oder Vulkanausbrüche standen als Ausdruck göttlicher Macht und Willkür scheinbar zusammenhanglos nebeneinander. Doch seit der Antike haben Menschen versucht, Schneisen in dieses Dickicht zu schlagen. Ihnen verdanken wir heute die Erkenntnis, dass dem vermeintlich wilden Strauch der Naturgewalten eine relativ einfache Ordnung zugrunde liegt.
In der christlichen Mythologie kommt manchen Zahlen eine besondere Bedeutung zu. Die Drei steht für die Heilige Dreifaltigkeit, die drei Erscheinungsfor-men Gottes. Die Vier steht für die Erde, symbolisiert durch die vier antiken Elemente oder auch die vier Himmelsrichtungen. Drei und vier ergeben zusammen die Zahl Sieben, die Verbindung von Himmel und Erde. Das Fundament der Physik ist von ähnlicher Schlichtheit: Demnach bestimmen drei Dinge die Geschicke der Welt: Raum, Zeit und Materie. Wie sich die Materie in Raum und Zeit verhält, bestimmen lediglich vier Kräfte, die allesamt der Materie innewohnen. Ganz gleich, ob wir die Bewegungen der Planeten betrachten, einen zuckenden Muskel, das Licht der Sonne, radioaktiven Zerfall, Schallwellen, einen Wirbelsturm, eine Kompassnadel oder einen fallenden Apfel – stets verbirgt sich dahinter das Wirken der immer selben vier Grundkräfte.
Die Entwicklung der Physik
Die Geschichte der Physik ist die Geschichte der Entdeckung dieser einfachen Ordnung. Als außerordentlich nützliche Erfüllungsgehilfin und Weggefährtin hat sich dabei die Mathematik erwiesen. (Die Entwicklung der Infinitesimalrechnung im 17. Jahrhundert etwa wurde durch eine physikalische Fragestellung provoziert.) Mathematisch exakt definierbare Naturgesetze, die nichts und niemand übertreten kann, erzeugen jene absolute Verlässlichkeit, auf der die Organisation des Kosmos und somit letztlich auch unsere eigene Existenz beruht.
Den Weg der Physik von der Antike bis zum heutigen Wissen um die Elementarteilchen, habe ich versucht, in einer Graphik zusammenzufassen. In den kommenden Physik-Blogs möchte ich diesen Weg Schritt für Schritt nachvollziehen.
Vier Grundkräfte
Jede der vier Grundkräfte ist mit einem ganz eignen Charakter ausgestattet. Das wundersame Zusammenwirken aller Kräfte bewirkt, dass die Welt so ist, wie sie ist. Die sich daraus ergebenden Wechselspiele lassen sich, wie erwähnt, mathematisch exakt in Form von Naturgesetzen beschreiben. Die Kräfte, die das Schicksal der (für uns messbaren) Welt bestimmen, sind:
· Gravitation
· Elektromagnetismus
· starke Kernkraft
· schwache Kernkraft
Schwerkraft und Elektromagnetismus kennen wir aus unserem Alltag; starke und schwache Kernkraft entfalten hingegen ihre alchemistischen Wirkungen allein im Verborgenen; sie wirken nur in den Atomkernen selbst. Betrachten wir kurz die wichtigsten Eigenschaften der vier Grundkräfte:
Wir sehen, dass diese Eigenschaften höchst unterschiedlich sind, was Reichweite, Abschirmbarkeit und Kraftwirkung in Abhängigkeit von der Entfernung angeht. Die Wirkung der Gravitation etwa beträgt, wenn sich der Abstand verdoppelt, nur noch ein Viertel. In einem Straßentunnel funktioniert unser Autoradio nicht mehr, die elektromagnetischen Wellen werden durch die Gesteinsmassen abgeschirmt. Die Gravitation hingegen wirkt auch im Tunnel noch nach wie vor. Auch hinsichtlich ihrer relativen Stärke unterscheiden sich Kräfte eklatant: Die starke Kernkraft ist etwa 100.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000-mal stärker als die Gravitation. Bosonen (genauer Eichbosonen) sind jene masselosen Elementarteilchen, die der Materie die vier Grundkräfte vermitteln – doch hier sollten wir abbrechen. Wir sind bereits mitten in der modernen Teilchenphysik gelandet und wie es zu dieser Erkenntnis kam ist eine lange Geschichte…
Zwei grundlegende Theorien
Unser heutiges Physikverständnis wird von zwei grundlegenden Theorien bestimmt, die die erfahrbare Physik unserer unmittelbaren Wahrnehmung auf die Streckbank der Extreme gespannt und peinlich befragt haben. Beide Theorien sind dabei zu atemberaubenden, allerdings für uns Menschen intuitiv nicht mehr nachvollziehbaren Erkenntnissen gelangt:
· Die allgemeine Relativitätstheorie ist die Betrachtung der unvorstellbar großen, kosmischen Maßstäbe; sie ist im Kern eine Theorie der Gravitation.
· Das Standardmodell der Teilchenphysik ist die Betrachtung der unvorstellbar kleinen subatomaren Maßstäbe. Sie beschreibt, wie starke, schwache und elektromagnetische Kräfte zwischen den Elementarteilchen wechselwirken. Das Standardmodell vermittelt uns damit das umfassendste Bild, das wir heute von den grundlegenden Zusammenhängen des Universums haben können.
Wer sich mit Physik bisher noch nicht näher auseinandergesetzt hat, ist jetzt vielleicht etwas verwirrt. Doch keine Bange. Wir werden die einzelnen Meilensteine, die uns zu diesem besonderen Weltbild geführt haben noch nach und nach beleuchten.
Dichtes Gewebe mit Löchern
Zusammen beschreiben Relativitätstheorie und Standardmodell sehr viele reale und grundlegende Phänomene der Welt. Die Spaltung und Fusion von Atomkernen hat zudem gezeigt, dass die beiden großen modernen Theorien der Physik irgendwie miteinander verbunden sind. Was bis heute fehlt, ist eine übergeordnete Theorie, die alle Aussagen Einsteins und der Quantenphysiker widerspruchslos miteinander vereint. Bei der Suche nach dieser Weltformel ist die Physik allerdings in den letzten Jahrzehnten nicht so recht vorangekommen. Seit einem halben Jahrhundert suchen tausende Physiker auf der ganzen Welt ohne greifbaren Erfolg nach einer Quantentheorie der Gravitation.
Diese umfassende Theorie müsste in der Lage sein, aus der Dynamik subatomarer Teilchen heraus alle bekannten kosmologischen Phänomene erklären zu können. Eines dieser Phänomene ist der merkwürdige Umstand, dass es eigentlich sehr viel mehr Materie im Universum geben müsste, als für uns sichtbar ist, denn die uns bekannten Sterne umkreisen das Zentrum ihrer Galaxien schneller, als wir es aufgrund der für uns erfassbaren Massen erwarten würden. Etwa 85% aller Materie, die es demnach im Universum geben müsste, interagiert offenbar nicht mit elektromagnetischen Wellen, das heißt, sie ist unsichtbar und wird daher als
„Dunkle Materie“ bezeichnet. Wir haben heute weder eine Vorstellung, ob es diese riesigen Stoffmengen überhaupt gibt, noch wie sie sich aufspüren ließen. So gesehen beschreibt die Physik Stand heute nur 15% unseres Universums.
Der Welterklärungsanspruch der Physik ist dennoch der umfassendste, den wir gegenwärtig kennen. Denn letztlich beruhen auch die Chemie, die von der Chemie abhängigen physiologischen Abläufe der Biologie und somit schließlich auch der menschliche Geist auf rein physikalischen Vorgängen. (Mehr dazu im nächsten Blog „Was ist Chemie?“)
Physik ist praktisch und philosophisch
Dass Physik es uns ermöglicht, sehr viel von dieser Welt zu verstehen, hat sowohl einen überaus praktischen als auch einen philosophischen Aspekt. Das Praktische erlaubt es uns, die Naturgesetze für unsere Zwecke einzuspannen. Dieses Wissen hat unsere Erde extrem verändert. Konkret geschieht das vor allem durch die Ingenieurswissenschaften. Das beginnt mit dem Funktionsprinzip eines Flaschenzugs, mit dem sich große Lasten mit wenig Kraft bewegen lassen und endet mit der Berücksichtigung der Relativitätstheorie bei der Berechnung von GPS-Daten.
In philosophischer Hinsicht zeigt die Physik uns die Grenzen unserer Erkenntnis auf: Information kann nicht schneller übertragen werden, als sich elektromagnetische Wellen im Vakuum ausbreiten können. Wir wissen auch nicht, in was das Universum hineinexpandiert oder was vor dem Urknall geschah. Nicht weil wir ignorant sind, sondern weil wir es grundsätzlich nicht wissen können. Wir befinden uns in der Welt und können sie nicht von außen betrachten.
Die Macht der Physik hat auch Pioniere der Gesellschaftswissenschaften inspiriert. So entwickelte der französische Soziologe Auguste Comte eine Vision, der zufolge auch menschliche Gemeinschaften physikalischen Gesetzen gehorchen. Das erscheint aberwitzig. Doch einige Staaten haben, wie wir im in den Blogs zum Thema "Gesellschaft" noch sehen werden, bereits damit begonnen, diese Vision in die Realität umzusetzen.
Weiterführende Literatur:
Holzner, Steven (2020): „Physik für Dummies“, Wiley-VCH
Anderl, Sibylle (2018): „Was ist ein Naturgesetz?” in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online vom 02.03.2018.
Comments