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AutorenbildJens Bott

Was ist Gesellschaft?

Aktualisiert: 28. Sept.

Ein sehr soziales Wesen

Zweifellos weist Homo sapiens innerhalb der Tierwelt das mit Abstand komplexeste Sozialverhalten auf. Er kann Emotionen verstecken oder vortäuschen, seine wahren Absichten verbergen, selbstlos handeln, Revolutionen anzetteln oder einen Sozialstaat organisieren. Die grundlegenden Handlungsmuster beim Umgang mit anderen Menschen haben ihre Wurzeln in evolutionär erprobten Konflikt- und Konfliktvermeidungsstrategien. Wahrscheinlich haben diese Strategien unser intuitives Verständnis dessen geprägt, was wir beim gegenseitigen Umgang als „gerecht“, "fair" oder „moralisch“ empfinden.

 

Die Physik des Zusammenlebens

Das Zusammenleben mit anderen bestimmt unseren Alltag. Seit der Antike sind wir auf der Suche nach begründbaren Regeln, mit denen sich Gemeinschaft im Spannungsfeld zwischen archaischen Reflexen und reiner Vernunft am besten organisieren lässt.


Pieter Bruegel der Ältere: Der Kampf zwischen Karneval und Fasten
Menschliche Gesellschaften: ein unübersichtliches Wimmelbild.

Ursprünglich eine Domäne der politischen Philosophie, entstand aus dieser Suche im 19. Jahrhundert die Idee einer „sozialen Physik“, der Versuch, gesellschaftliche Phänomene nicht nur moralisch zu bewerten, sondern auch quantitativ beherrschbar zu machen. Heute suchen neben Philosophen und Soziologen auch Politik- und Geschichtswissenschaftler, Anthropologen, Ökonomen und Mathematiker nach den Gesetzen menschlicher Gesellschaften. Sie ziehen dazu den Einfluss der Religion heran, analysieren offenbare und verborgene Strukturen der Macht oder untersuchen spieltheoretische Dilemmata. Ein zusammenhängendes Bild oder gar eine einheitliche Theorie menschlichen Zusammenlebens, das sich etwa mit dem recht kohärenten Weltbild der Physik vergleichen ließe, ist daraus bis heute allerdings nicht entstanden. Gemein ist den verschiedenen Ansätzen lediglich, dass ihnen stets religiös oder philosophisch gerechtfertigte Wertesysteme zugrunde liegen.

 

Staatstheorien

Bereits vor der Zeitenwende wurde darüber nachgedacht, welche Rolle in diesem Zusammenhang dem Staat zukommen soll. Sowohl Platon als auch Aristoteles, die beiden Ikonen der klassischen griechischen Philosophie, haben sich mit diesem Thema intensiv auseinandergesetzt. Den Römern – sie waren mehr Praktiker als Theoretiker – ist das Kunststück gelungen, eine republikanische Verfassung zu schaffen, deren Kern rund 500 Jahre lang Bestand haben würde.

Mit Beginn der Neuzeit lieferten Niccolò Machiavelli und sein Zeitgenosse Thomas Hobbes ganz neue Perspektiven. Machiavellis Schrift „Der Fürst“ ist deshalb von großer ideengeschichtlicher Bedeutung, weil hier erstmals keine moralischen Forderungen aufgestellt, sondern allein nüchtern und ungeschminkt die Gesetze des Machterhalts analysiert und beschrieben werden.


Auch Hobbes „Leviathan“ ist bis heute eines der bedeutsamsten Werke der modernen politischen Philosophie. Ohne staatliche Ordnung, so Hobbes, lebt der Mensch in einem Naturzustand, der alles andere als idyllisch ist: Es herrscht ein „Krieg aller gegen alle“ „Das menschliche Leben [wird dadurch] einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“. Um diesem Zustand zu entkommen, schließen die Menschen mit dem Staat einen fiktiven Gesellschaftsvertrag. Es handelt sich dabei nicht um einen Vertrag im herkömmlichen Sinne, ein Dokument, das alle Beteiligten unterschreiben müssen, sondern vielmehr um ein gedankliches Konstrukt von beachtlicher historischer Wirkung: Demnach einigen sich die Menschen ihre Macht an einen Souverän abzutreten, der dadurch allerdings zu einem monstergleichen Organismus wird. Hobbes benutzt die Metapher des Leviathans, einem schrecklichen Meeresungeheuer der biblischen Mythologie – ein Symbol für den absolutistischen Staat. Doch erst diese beispiellose Machtfülle ermöglicht Freiheit, Wohlstand und Selbstentfaltung für alle und sorgt dafür, dass jeder die Früchte seines Tuns auch ernten kann.

Thomas Hobbes "Leviathan" Titelbild zeigt einen Riesen mit Schwert über einer Landschaft
Das alles beherrschende Monster "Staat"

Hobbes Idee sollte sich als so wirkmächtig erweisen, dass sie in den folgenden Jahrhunderten mehrfach von politischen Philosophen wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau aufgenommen und um weitere, teils konträre Betrachtungsperspektiven bereichert wurde.

 

Die Anfänge der Soziologie

Im 19. Jahrhundert nährte der rasche Fortschritt in allen Bereichen der Naturwissenschaften die Vorstellung, dass auch Gesellschaften und ihre Entwicklung mathematisch exakt beschreibbaren Gesetzen gehorchen. So zumindest die ambitionierte Vorstellung des Franzosen Auguste Comte, der als Begründer der modernen Soziologie gilt. Auf dieser Grundlage lieferten Soziologen wie Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies und Max Weber empirisch fundierte Theorien, mit denen sich bis heute zahlreiche Phänomene moderner westlicher Gesellschaften erklären und analysieren lassen.


Nach dem Zweiten Weltkrieg haben drei weitere Soziologen, Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu und Michel Foucault aufgezeigt, dass Machtausübung, insbesondere auch in Demokratien, sehr viel subtilere Formen annehmen kann, als sie uns etwa aus diktatorischen Regimen bekannt sind.


Mulberry Street in New York um 1900. In der Häuserschlucht eine dicht gedrängte Menschenmasse
Menschen um 1900 in New York: Vertrauen sie einander?

Grundlage eines konstruktiven Zusammenlebens aller Menschen ist Vertrauen. Nach Luhmann handelt es sich dabei um einen „Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“. Tatsächlich setzt sich heute sogar ein ganzer Zweig der Mathematik, die Spieltheorie, mit diesem Phänomen auseinander und analysiert, ob wir langfristig besser damit fahren anderen zu vertrauen oder dieses Vertrauen zu missbrauchen.


Soweit der erste Überblick über das Themenspektrum, das wir in der Kategorie „Gesellschaft“ noch eingehender beleuchten werden…

 

Weiterführende Literatur:

Hobbes, Thomas (1996): „Leviathan“, Meiner.

Machiavelli, Niccolò (1990): „Der Fürst“, Insel.

Foucault, Michel (1994): „Überwachen und Strafen“, Suhrkamp.

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3 Comments


jotfried
Mar 16

LEBEN – denkt der Mensch beschränkt –,

das Leben sei ihm ja geschenkt.

Dieser Irrtum wird verziehen,

wenn du einsiehst: NUR GELIEHEN.


©Lermann-Verlag, Mainz; Lebensnebel, Sarkastische Gedichte, Jürgen Friedrich (vergriffen)

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hhhhb
Dec 25, 2023

Der Autor geht in manchen Punkten etwas leichtfüßig mit den Staatstheoretikern/Philosophen um. Nie haben die Menschen einen Gesellschaftsvertrag geschlossen, auch nicht mündlich oder durch konkludentes Handeln. Sie haben sich nie darauf geeinigt, ihre Macht an den Souverän abzutreten. Seine Machtfülle ermöglicht auch nicht Freiheit , Wohlstand und Selbstentfaltung . Herrschaft und damit Staatenbildung sind entstanden durch Anmaßung, Bandenbildung., Gewaltausübung . Selbst gemütliche Gesellschaften wie Deutschland, Schweiz , Skandinavien , Uruguay, Bhutan, Japan haben Vorgeschichte der Gewalt und des Terrors ( Deutschland. Nazis , Schweiz gewaltsame Befreiung von den Habsburgern, Skandinavien: Gewaltsame Einsetzung de lutherischen Protestantismus, Japan: die amerikanische Atombombe.

Hans Henning Hartmann

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Jens Bott
Jens Bott
Dec 25, 2023
Replying to

Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Ich sehe allerdings nicht ganz die Beziehung zum Inhalt des Artikels. Es werden hier erstmal nur verschiedene Theorien, mit denen sich gesellschaftliche Phänomene beschreiben lassen, kurz angerissen. Ich meine deutlich gemacht zu haben, dass es sich bei Hobbes Staatstheorie um ein gedankliches Konstrukt handelt. Dass das Gewaltmonopol des Staats Voraussetzung ist für die Entfaltung von Freiheit, Wohlstand und Selbstverwirklichung ist ebenfalls eines Aussage von Hobbes (die ich persönlich teile). Hobbes' Konstrukt hatte eine beachtliche Ideengeschichtliche Wirkung und gehört daher m.E. zum Kanon. Dass der Staat seine Macht auch Missbrauchen kann steht auf einem ganz anderen Blatt. Die einzelnen Gesellschaftstheorien, hier nur kurz erwähnt, werden in den kommenden Blogs noch ausführlicher behandelt.

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