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Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser: Die Entstehung der Spieltheorie

Aktualisiert: vor 33 Minuten

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

So wie das Universum auf die Unbestechlichkeit der Naturgesetze angewiesen ist, um überhaupt existieren zu können, benötigen auch menschliche Gesellschaften stabile Spielregeln, um dauerhaft zu bestehen. Dazu gehört neben den offenbaren und verborgenen Strukturen der Macht vor allem Vertrauen. Grundvertrauen in andere Menschen ist eine anthropologische Konstante. Die biochemische Basis hierfür ist das „Kuschelhormon“ Oxytocin, das bei allen wohlwollenden Formen menschlicher Nähe ausgeschüttet wird. Neurobiologische Untersuchungen zeigen, dass Menschen, denen Oxytocin künstlich verabreicht wurde, vertrauensvoller handeln und bereit sind mehr Risiken einzugehen.

 

Vertrauen stabilisiert Gesellschaften

Beim Zusammenleben mit anderen verlassen wir uns im Allgemeinen darauf, dass Schulden beglichen werden, dass das Essen im Restaurant hygienischen Standards entspricht oder dass Impfungen unbedenklich sind. Das Vertrauen, dass Versprechen eingehalten werden, ist ein zentraler Stabilitätsanker der Gesellschaft, es ist mit Luhmanns Worten "ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität".[i] Vertrauen vermeidet Kosten, die entstünden, wenn wir alles selbst machen oder ständig kontrollieren müssten. Es ist die Grundlage eines der wenigen echten Alleinstellungsmerkmale des Menschen: der Fähigkeit zu komplexen Formen der Kooperation. Wird Vertrauen missbraucht, erfolgt die Bestrafung nicht nur durch den langen Arm des Gesetzes, sondern auch durch gesellschaftliche Ächtung und soziale Isolation. Dass sich unkooperatives Verhalten nicht auszahlt, lernen wir meist schon als Kinder. „Trittbrettfahrer“, also Menschen, die sich ohne eigenen Beitrag Vorteile erschleichen, werden auch von Gemeinschaftsmitgliedern sanktioniert, die selbst nicht von dem Schaden betroffen sind. Nicht selten geschieht dies sogar in Form einer „altruistischen Bestrafung“, das heißt, wir ahnden Vertrauensbrüche selbst dann, wenn es uns persönliche Nachteile bringt.[ii] Dieses Verhalten hat wahrscheinlich einen evolutionsbiologischen Ursprung: Gegenseitige Verlässlichkeit innerhalb der Sippe war für die Gattung Homo ein Erfolgsrezept. Wir haben allen Grund, Vertrauen und Fairness aufrechtzuerhalten – würde unfaires Verhalten belohnt, wären die Vorteile einer konstruktiven Kooperation schnell dahin.


Vertrauen ist ursprünglich ein zwischenmenschliches Phänomen. Als makrosoziologische, die ganze Gesellschaft durchströmende Erscheinung, ist es eine neuzeitliche Erfindung. In Antike und Mittelalter, politisch und ökonomisch labilen Zeiten, war es im höchsten Maße riskant, seinen Mitmenschen allzu viel Zutrauen entgegenzubringen – enge Verwandte eingeschlossen. Für die Soldatenkaiser, die Rom im 3. Jahrhundert regierten, war die wahrscheinlichste Todesursache, von den eigenen Gefolgsleuten ermordet zu werden. Im Mittelalter war Vertrauen in erster Linie auf Gottvertrauen beschränkt. Die Zuversicht, die wir wildfremden Menschen heute in aller Regel bedenkenlos entgegenbringen, ist nur möglich, weil wir wissen, dass unsere Rechte im Fall der Fälle durch die drei staatlichen Gewalten geschützt werden.[iii] 

 

Die Entstehung der Spieltheorie

Vertrauen lässt sich auch mathematisch analysieren – zumindest ist dies der Anspruch der Spieltheorie, die mit analytischen Modellen untersucht, wie sich Menschen in konfliktbehafteten Entscheidungssituationen mit mindestens zwei Beteiligten verhalten. Die Entwicklung dieses Spezialgebiets ist vor allem mit den Mathematikern John von Neumann (1903-1957), John Forbes Nash (1928-2015) und Reinhard Selten (1930-2016) verbunden. Nash und Selten erhielten für ihre Leistungen auf diesem Gebiet 1994 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.


koloriertes Foto von Nash als alter Mann: Graue Haare, Scheitel, hageres Gesicht, trägt einen Schal
A Beautiful Mind: John Forbes Nash

Bei spieltheoretischen Problemstellungen geht es darum, dass jeder Spieler für sich selbst eine vorteilhafte, rationale Strategie finden muss, die aber auch das zu erwartende Verhalten der Mitspieler berücksichtigt. Die beiden grundlegenden Strategien sind Kooperation, also ein Vorgehen, das auf Vertrauen setzt, und egoistisches Verhalten. Spieltheoretische Überlegungen lassen sich auf viele politische, gesellschaftliche und ökonomische Problemstellungen anwenden. Auch die evolutionär stabile Strategie, die wir noch in der Kategorie Biologie betrachten werden, lässt sich mit diesem Instrument erklären.


Das Gefangenendilemma ist das wohl bekannteste spieltheoretische Szenario. Es erklärt, warum zwei rationale Entscheider wahrscheinlich nicht miteinander kooperieren, obwohl dies eigentlich in ihrem Sinne wäre. Ausgangslage ist die folgende: Zwei Gefangene, A und B, haben gemeinsam ein Verbrechen verübt und werden dafür angeklagt. Sie werden getrennt verhört und haben keine Möglichkeit sich auszutauschen. Streiten beide die Tat ab, erhalten sie wegen eines anderen, weniger schwerwiegenden Vergehens, das ihnen nachgewiesen werden kann, eine Strafe von einem Jahr. Gestehen beide, erhält jeder eine Strafe von zwei Jahren – da sie geständig waren, wird keine Höchststrafe verhängt. Gesteht jedoch nur einer der beiden Gefangenen, während der andere die Tat leugnet, wird der Geständige als Kronzeuge freigesprochen, der Leugner erhält hingegen die volle Strafe von 5 Jahren.


Zwei Schachfiguren (Springer) stehen sich gegenüber, im Hintergrund Gitterstäbe
Vertrauen oder Verraten: Was zahlt sich mehr aus?

Die Frage ist nun, welche Strategie die Gefangenen vernünftigerweise einschlagen sollten. Sie haben die Wahl zu gestehen oder die Tat abzustreiten, wissen aber nicht, wie sich der andere entscheiden wird. Das persönliche Strafmaß hängt nicht nur von der eigenen Entscheidung, sondern auch von der des Komplizen ab. A erzielt für sich den größten Nutzen, wenn er die Tat gesteht und damit B verrät. Leugnet B, winkt A der Freispruch; gesteht B ebenfalls, kommt A immerhin mit weniger als der Höchststrafe davon. Da B aber die gleiche Überlegung anstellt und ebenfalls gesteht, wandern beide für zwei Jahre hinter Gitter. Das Geständnis ist aus der egoistischen Einzelperspektive die dominante Strategie, denn sie führt, unabhängig davon, wie sich der andere entscheidet, zu einem besseren Ergebnis als das Leugnen der Tat.

 

Die Auszahlungsmatrix beim Gefangenendilemma
Die Auszahlungsmatrix beim Gefangenendilemma

Die Entscheider erzeugen damit ein Nash-Gleichgewicht, das heißt eine Situation, bei der sich alle Beteiligten durch eine alternative Strategie nur verschlechtern können. Hätten A und B allerdings einander vertraut und beide die Tat geleugnet, wären sie mit nur einem Jahr davongekommen. 


Kein ganz neues Thema

Dem Grundproblem des Gefangenendilemmas begegnen wir bereits in Hobbes Leviathan. Wenn die Naturgesellschaft, in der das Leben „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ ist, sich in die sichere Obhut des Staates begeben möchte und ihm das Gewaltmonopol überträgt, muss einer den ersten Schritt tun und die Waffen abgeben. Woher aber weiß derjenige, ob die anderen dann nicht über ihn herfallen? Solche Szenarien sind keinesfalls hypothetisch. Wir kennen sie aus aktuellen Konflikten, etwa, wenn die UNO versucht, zwischen Bürgerkriegsparteien einen Waffenstillstand zu vermitteln.

 

Wie Du mir, so ich Dir

Der Politologe und studierte Mathematiker Robert Axelrod hat die Kooperation egoistischer Individuen mit Hilfe der Spieltheorie erforscht. In seinem 1984 erschienenen Buch „Die Evolution der Kooperation“ legt er dar, was geschieht, wenn das Gefangenendilemma nicht nur einmal, sondern viele Male hintereinander gespielt wird. Axelrod schrieb dazu einen Programmierwettbewerb für die beste Strategie aus, an dem sich die Vertreter unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen beteiligten. Es zeigte sich, dass kooperative Strategien grundsätzlich überlegen waren. Das erfolgreichste Vorgehen war die einfache Strategie „Tit for Tat“: Der Spieler vertraut in der ersten Runde seinem Gegenüber. In allen folgenden Runden ahmt der Spieler dann jeweils immer genau den Spielzug des Partners nach. Hat der Partner ebenfalls vertrauensvoll eine kooperative Strategie eingeschlagen, verhält man sich selbst auch beim nächsten Mal kooperativ. Wurde man verraten, zahlt man dies mit gleicher Münze heim; man ist aber nicht nachtragend und verhält sich in der nächsten Runde wieder kooperativ, sofern der Gegenüber dies ebenfalls tut. Diese Mischung aus entgegenkommender Grundhaltung und Sanktion von Vertrauensbrüchen hat sich als die nachhaltigste aller Strategien erwiesen. Neurobiologische Untersuchungen zeigen, dass kooperatives Verhalten bei Mehrrundenspielen des Gefangenendilemmas das Belohnungssystem des Gehirns aktiviert und konstruktives, altruistisches Verhalten damit weiter verstärkt.[iv] 

 

Spieltheorie und Geopolitik

Die Spieltheorie liefert umfassende Analyseinstrumente für die Mikroebene sozialer Entscheidungen. Sie erklärt eine breite Palette von Verhaltensmustern, die von evolutionären Strategien in der Biologie über das Zustandekommen von Verträgen, das Vorgehen von Bietern bei einer Auktion bis hin zum Verhalten von Kindern auf dem Spielplatz reicht. Zu den bevorzugten Einsatzgebieten spieltheoretischer Ansätze zählt auch die Geopolitik. Zwei Beispiele: Während des kalten Krieges wäre für Sowjets und Amerikaner ein atomarer Vergeltungsschlag die einzige egoistisch-rationale Option gewesen, um nach einem gegnerischen Erstschlag das Nash-Gleichgewicht wiederherzustellen. Während es hierzu glücklicherweise nicht kam, war eine ähnliche spieltheoretische Situation ein wichtiger Faktor beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Als Russland Ende Juli 1914 nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Mobil machte, war aus Sicht des Deutschen Reiches nicht klar, ob es sich um eine Drohgebärde oder echte Angriffsvorbereitungen handelte. Der deutsche Mobilisierungsplan sah jedoch nicht vor, dass Russland in dieser Situation noch verhandlungsbereit sein könnte. Deutschland hatte zu der geplanten Reaktion eines eigenen Aufmarschs keine Alternativen vorbereitet.[v] Bündnissysteme, Drohungen, Bluffs und festgelegte Eskalationsroutinen führten zu einer verhängnisvollen Kettenreaktion – ein verheerendes Feuer, das sich nicht mehr austreten ließ.

 

Spieltheorie und Ökonomie

Karl Marx und Max Weber haben unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass der materielle Wohlstand in praktisch allen Gesellschaften bis heute sehr ungleich verteilt ist. Die Frage, wie Reichtum erwirtschaftet und geteilt werden soll, ist neben der Frage der politischen Machtverhältnisse das zweite bestimmende Element menschlichen Zusammenlebens. Stellen wir ökonomische Mechanismen und Interessenskonflikte in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen, wird aus dem Zoon politikon ein Homo oeconomicus.

 

 

Wer mehr wissen will:

Selten, Reinhard (1981): Einführung in die Theorie der Spiele mit unvollständiger Information. In: Erich W. Streissler (Hrsg.): Information in der Wirtschaft – Verhandlungen auf der Arbeitstagung des Vereins für Socialpolitik in Graz 1981

Luhmann, Niklas (2014): „Vertrauen“, UTB.

Weber, Christian (2010): „Riskante Erfindung der Moderne“ in: Süddeutsche Zeitung Online vom 25.10.2010. 

Rilling, James K et al. (2002): „A Neural Basis for Social Cooperation” in: Neuron Vol.35 vom 18.07.2002 S. 395-405.

Krumeich, Gerd (2013): „Juli 1914. Eine Bilanz“, Schoeningh.


 

Bildnachweise:

 

Anmerkungen

[i] So der Untertitel seines 1968 erschienen Buchs „Vertrauen“.

[ii] Vgl. Spitzer (2002) S. 117. Ein Beispiel für eine altruistische Bestrafung ist, wenn wir uns über eine schlechte Ware oder Dienstleistung ärgern und auf dem Kundenportal eine negative Kritik hinterlassen, obwohl wir wissen, dass es sich um einen einmaligen Kauf handelt.

[iii] Vgl. Weber, Christian (2010).

[iv] Vgl. Rilling (2002) S.395.

[v] Vgl. Krumeich (2013) S. 151 ff.

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