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Wer soll herrschen?

Die politische Philosophie bei Platon

Die Ursprünge der politischen Philosophie führen uns, wie so vieles Andere auch, ins antike Griechenland. Die Halbinsel war über lange Zeit ein Experimentierlabor, im dem sich verschiedene Gesellschaftsentwürfe, unmittelbar vergleichen ließen. In den Stadtstaaten, den Poleis, fanden sich neben Monarchien und Tyrannis auch aristokratisch und demokratisch verfasste Ordnungen sowie Mischformen der verschiedenen Verfassungselemente. Theben und Sparta waren in erster Linie aristokratisch organisiert, wobei Sparta auch demokratische Elemente, wie die Apella, die Volksversammlung, aufgenommen hatte. Athen, ursprünglich von Aristokraten und Tyrannen regiert, war während der klassischen Zeit eine Demokratie. Allerdings keine, die heutigen Maßstäben gerecht würde: Frauen, Bürger unter dreißig Jahren, Ausländer und Sklaven waren von der politischen Teilhabe ausgeschlossen; die Ausübung von Macht war stark an die Besitzverhältnisse gebunden.


Eine Karte des Mittelmeer das Griechische Kolonien im 4. Jahrhundert v. Chr. in Rot markiert
Griechische Kolonien im 4. Jahrhutndert v. Chr.

Die erste theoretische Analyse möglicher Staatsverfassungen verdanken wir Platon. In seiner „Politeia“, in der er auch seine Ideen- und Seelenlehre darlegt, untersucht der Philosoph, was einen guten Staat ausmacht. Platon zieht dabei eine Parallele zum menschlichen Innenleben: Die drei von ihm beschriebenen Seelenanteile Begierde, Mut und Vernunft haben jeweils ihre Entsprechung in gesellschaftlichen Ständen. Der Begierde entspricht der Nährstand; dazu gehören Bauern, Handwerker aber auch Ärzte und Künstler. Dem Mutartigen entspricht der Stand der Wächter, also Soldaten und Polizisten. Dem Vernunftanteil der Seele schließlich entspricht der Herrscher. Er ist im Idealfall Philosoph oder zumindest ein philosophisch gebildeter König, denn nur diese können die wahren, unverfälschten Ideen sehen. Dass sich alle Angehörigen eines Standes in ihre jeweilige Rolle fügen, sichert das Gemeinwohl, das wichtigste staatliche Ziel.


Nach Platons Überzeugung sollen die Besten herrschen – dies ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Aristokratie“. In seinem idealen Staat sind die Herrscher besitzlos, die Frauen gleichberechtigt. Das System ist durchlässig; bei Eignung gibt es die Möglichkeit, in einen höheren Stand aufzusteigen. Cliquen und Klans, die ihre Interessen über die der Gemeinschaft stellen, sollen aktiv bekämpft werden. An die Wächter werden hohe charakterliche und erzieherische Anforderungen gestellt, auch sie sollen, wie die Herrscher, weitestgehend auf Privatbesitz verzichten. Platons utopisches Gemeinwesen mutet stellenweise aber auch überaus repressiv an. Der Staat greift massiv ins Privatleben seiner Bürger ein, schreibt standesspezifische Bildungskanons vor, regelt die Heirats- und Geburtenpolitik und fordert Euthanasie für behinderte Kinder. (Eine Praxis, die in der Antike allerdings ohnehin gängig war.) Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Karl Popper sahen in Platons Staat daher den Prototypen eines totalitären Regimes.


Steinbüste eines erst blickenden Mannes mit Bart
So soll Platon ausgehen haben

Von dem Idealzustand der Philosophenkönige ausgehend, beschreibt Platon alternative Modelle. Die Timokratie, die Herrschaft des Geldadels, ist die zweitbeste Staatsform. Sie entsteht, wenn die Wächter ihre Tugenden vergessen, aus Besitzgier Bauern und Handwerker unterjochen und den Staat in eine Militärdiktatur verwandeln. Die Timokratie hat Tendenz mit der Zeit zu einer Oligarchie zu degenerieren, der Herrschaft der Wenigen, in der eine korrupte Oberschicht nur noch daran denkt, sich skrupellos zu bereichern. Solche Zustände führen über kurz oder lang zu blutigen Revolutionen, in denen das entrechtete Volk die Oligarchen stürzt und eine Demokratie errichtet. Statt Geldgier steht nun die Freiheit im Vordergrund. Für Platon ist dies jedoch keineswegs ein Fortschritt, sondern vielmehr ein weiterer Abstieg des Gemeinwesens. Inkompetente Bürger gelangen nun an Ämter, Sanktionen können nicht mehr durchgesetzt werden, alles endet früher oder später im Chaos. In dieser Situation ergreifen typischerweise Tyrannen die Macht. Der Tyrann, der sich anfangs als Volksfreund gibt, errichtet eine Gewaltherrschaft. Er beseitigt seine Gegner und erpresst hohe Steuern, um Kriege und seine eigene Sicherheit finanzieren zu können. Mit der Tyrannis hat nun die Begierde, der niedrigste Seelenanteil, den Staat im Würgegriff.


Ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert. Ein Mann mit Helm spricht mit theatralischer Geste vor einer Volksmenge; im Hinitergrund die Akropolis
Idealisierende Darstellung der attischen Demokratie aus dem 19. Jahrhundert

In seiner später entstandenen Schrift, „Politikos“ modifiziert Platon seine Hierarchie. Er definiert nun Monarchie als gerechte, das heißt auf Gesetzen basierende Herrschaft einer Person, und Aristokratie als die gerechte Herrschaft weniger. Die drittbeste Form ist eine gerechte Demokratie. Neben diesen drei guten Herrschaftsformen gibt es drei schlechte: die anarchische Demokratie, die Oligarchie und die Tyrannei. Die widersprüchlichen Aussagen, die Platon jeweils in „Politeia“ und „Politikos“ äußert, werden oftmals damit erklärt, dass Erstere eine ideale und Letztere eine reale Reihenfolge beschreiben soll.

 


Tabelle mit den von Platon und Aristoteles definierten Staatsformen
Die Hierarchie der Staatsformen bei Platon und Aristoteles

 Aristoteles sieht vieles ähnlich – aber nicht alles!

Auch Aristoteles beschäftigte sich mit der Frage, wie ein idealer Staat verfasst sein müsste. Er äußert sich dazu sowohl in der „Nikomachischen Ethik“ als auch in der „Politik“. Der Mensch ist, so schreibt er dort, ein „Zoon politikon, ein politisches Wesen, das sich aus praktischen Gründen in Gemeinschaften zusammenschließt, weil es so besser leben kann. Anders als Platon betrachtet Aristoteles den Staat nicht als einen einheitlichen Organismus, sondern als eine Pluralität, als eine „seinem Wesen nach [.] zahlenmäßige Vielheit“. Dennoch gibt es weitgehende Parallelen zu Platon. Auch Aristoteles bringt die möglichen Staatsgebilde in eine absteigende Reihenfolge und unterscheidet drei gute und drei schlechte Formen. Im Vergleich zu Platons „Politikos“ ist das Unterscheidungskriterium allerdings nicht Gesetz oder Gesetzlosigkeit, sondern ob die Herrschenden das Allgemeinwohl oder den eigenen Vorteil im Blick haben. Auch bei Aristoteles sind Monarchie und Aristokratie die theoretisch besten Regierungsformen. Die drittbeste Möglichkeit, die dem Interesse aller dienende Herrschaft der Vielen, bezeichnet Aristoteles als Politie. Wie in der attischen Realität sind auch bei Aristoteles die „Vielen“ längst nicht alle: Frauen haben, anders als bei Platon, eine untergeordnete Stellung und selbstverständlich sind Ausländer und Sklaven, aber auch Besitzlose von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. In dem Maße, in dem Ausländer und Besitzlose an der Macht beteiligt werden, degeneriert die Politie zu Demokratie. Das Gleichgewicht zwischen Arm und Reich, das die Politie noch auszeichnet, ist nun gestört und Demagogen verleiten den Pöbel zu gesetzlosem Verhalten.


Kopf einer Steinbüste, die einen Mann mit kurzem Vollbart zeigt
Aristoteles

Während bei Platon eine kontinuierlich absteigende Verfallsreihe vom Königtum zur Tyrannis führt, geht Aristoteles also von direkten Sprüngen vom tugendhaften zum egoistischen Gegenentwurf aus: Aus der Monarchie wird rasch eine Tyrannei, aus der Aristokratie eine Oligarchie und aus der Politie eine Demokratie. Beiden Theorien ist gemein, dass den guten Staatsformen stets ein systemischer Hang zu Verschlechterung innewohnt. Selbst wenn nach einer Zeit die Verfassungen wieder zum Besseren korrigiert werden, so sind die politischen Systeme doch grundsätzlich instabil. Obwohl Königtum und Aristokratie die theoretisch besten Staatsformen sind, plädiert Aristoteles pragmatisch dafür, Elemente der Oligarchie mit denen der Demokratie zu einer Politie zu verbinden. Sie stellt zwar keine optimale Regierungsform dar, ist aber am ehesten geeignet, Stabilität zu gewährleisten.

 

Die Römische Verfassung: Das perfekte Modell

In einer solchen stabilen Mischverfassung meinte der griechische Historiker Polybios rund 200 Jahre später einen der wichtigsten Gründe für den bemerkenswerten Aufstieg des Römischen Reiches erkannt zu haben. Um 500 v. Chr. hatten die Patrizier, der römische Uradel, den König entmachtet, eine Republik ausgerufen und sich dabei den exklusiven Zugriff auf die höchsten Staatsämter – Konsulat und Senat – gesichert. Ab dem 5. Jahrhundert erstritten sich dann die nichtadligen Plebejer nach und nach ihren Anteil an der Macht. Über Ämter wie das des Volkstribuns und die Schaffung eines plebejischen Adels erlangten die bisher Ausgeschlossenen Zugang zu wichtigen Staatsämtern. So entstand mit der Zeit ein ausgeklügeltes System von „checks and balances“, in das alle politisch aktiven Interessengruppen eingebunden waren. Als Parlament fungierte der von den Patriziern dominierte Senat, der in Zeiten des Notstands, und auf ein halbes Jahr befristet, einen Diktator mit fast unbegrenzten Machtbefugnissen ernennen konnte. An der Spitze des Verwaltungsapparats standen zwei Konsuln, die zwar über sehr weitreichende Kompetenzen, das „Imperium“, verfügten, deren Amtszeit aber auf ein Jahr begrenzt war und die sich zudem gezwungen sahen, ihre Beschlüsse gemeinsam fassen zu müssen. Kandidaten für das Konsulat mussten zuvor eine lange und fest vorgeschriebene Ämterlaufbahn absolvieren, den cursus honorum. Dazu gehörten neben militärischer Erfahrung in Jugendjahren Positionen als Quästor, Ädil oder Tribun, sowie das Mandat des Prätor, bei denen sich die Amtsinhaber unter anderem mit Strafverfolgung, Steuerwesen, Bau- und Marktaufsicht, der Organisation öffentlicher Spiele, Kontrolle der Bordelle und Gerichtsbarkeit vertraut machen mussten. Gewählt wurden die Magistrate durch die Volksversammlung, zu der allerdings nur männliche Bürger zugelassen waren und deren Stimmgewicht zudem von ihren persönlichen Vermögensverhältnissen abhing, was reichen Patriziern und Plebejern erheblichen Einfluss sicherte.


Ein Schaubild, das die verschiedenen Institutionen der Römischen Verfassung darstellt
Die Verfassung der Römischen Republik

Für Polybios war das römische System ein ideales Modell, das die Vorteile verschiedener Verfassungen kombinierte und dem es unstrittig gelungen war, Platons und Aristoteles‘ unselige Abstiegstendenzen zu durchbrechen. Die Machtbefugnisse des Konsulats repräsentieren dabei das monarchische Element, das Beratungsgremium des Senats das aristokratische sowie Tribunat und Magistratswahl durch Volksversammlungen das demokratische.

  

Auch Marcus Tullius Cicero preist in seinen Werken „de legibus“ – „Von den Gesetzen“ und „de re publica“ – „Vom Staat“ die römische Mischverfassung als die real existierende Verwirklichung des von den Philosophen angestrebten Ideals, denn die Monarchie befördert die Liebe, die Aristokratie die Einsicht und die Demokratie die Freiheit. Das römische Machtsystem räumt all diesen Tugenden einen Platz ein.


Portraitbürste eines bartlosen Mannes aus dem antiken Rom, der eine Toga trägt
Praktiker und Theoretiker: Der römische Politiker Marcus Tullius Cicero

 

Wer soll herrschen? Eine neue Sicht auf den Staat

In der antiken Welt waren religiöse Kulte völlig selbstverständlich Teil der Staatsräson. So war Julius Cäsar nicht nur Konsul und Diktator, sondern als Pontifex maximus, als oberster Brückenbauer, gleichzeitig auch höchster Priester – ein Titel, der später auf den Papst übergehen sollte. Am Ende der Antike forderte Augustinus von Hippo in seinem „Gottesstaat“ jedoch den Bruch dieser Einheit: „Was sind überhaupt Reiche, wenn die Gerechtigkeit fehlt, anderes als große Räuberbanden?“


Einfache Malerei das einen Geistlichen beim Schreiben zeigt; auf seiner Schulter sitzt eine Taube
Sah den Staat als solchen kritisch: Kirchenvater Augustinus

Damit stellt der Kirchenvater die Autorität staatlicher Ordnungen grundsätzlich infrage und fordert den Primat der Kirche. Der hieraus entstehende Konflikt zwischen Kirche und Staat sollte das gesamte europäische Mittelalter wesentlich bestimmen. Lediglich bei Thomas von Aquin finden sich in Folge seiner Rückbesinnung auf die Antike wieder positive Aussagen über den Staat als einheitsstiftende Macht für das Zoon politikon.

 

Wer mehr wissen will:

Aristoteles (1994): „Politik“, Rowohlt.

Platon (1857): „Der Staat“, Projekt Gutenberg-DE.

Popper, Karl (1992): „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I: Der Zauber Platons“, UTB

Polybios (1961): „Geschichte“, Artemis

Cicero, Marcus Tullius (2013): „Vom Staat”, Reclam.

Augustinus (1911): Über den Gottesstaat” (De civitate Dei), Bibliothek der Kirchenväter.

Platon (1989): „Der Staat“ (Politeia), Meiner

Hübner, Dietmar: „Politische Philosophie“: Platon (Vorlesung auf Youtube)

Hübner, Dietmar: „Politische Philosophie“: Aristoteles (Vorlesung auf Youtube)

Hübner, Dietmar: „Politische Philosophie“: Polybios, Cicero (Vorlesung auf Youtube)



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