Babylon by bus
Vor einigen Jahren habe ich den Versuch unternommen, Chinesisch zu lernen. Der Versuch war – zugegeben – nur halb ernst. Meine hauptsächliche Motivation war es, in eine Gedankenwelt einzutauchen, die nach völlig anderen Prinzipien funktioniert, als alle Sprachen, die ich bisher gelernt habe.
Was ich aus diesem Experiment mitgenommen habe, waren drei Dinge: Erstens es gibt so „verrückte“ Phänomene wie dass die Tonhöhe den Wörtern völlig unterschiedliche Bedeutungen geben kann. (Verrückt ist das natürlich nur aus einer eurozentrischen Perspektive.) Zweitens die Erkenntnis, dass eine Sprache schriftlich auch nach ganz anderen Prinzipien als einem phonetischen Alphabet aufgezeichnet werden kann (Und sei es um den Preis, dass einige tausend Zeichen auswendig gelernt werden wollen.) Die dritte und verblüffendste Erkenntnis für mich aber war, dass Grammatik auch unbeschreiblich einfach sein kann, ohne dass die Genauigkeit von Aussagen dadurch wesentlich beeinträchtigt wird.
Ein Freund, der ein entsprechendes Experiment mit Türkisch unternommen hat, hat ähnliche Erfahrungen gemacht: Sprachen können auch nach völlig anderen Prinzipien funktionieren, als Deutsch oder die europäischen Fremdsprachen, die wir üblicherweise lernen. In den kommenden Sprachblogs werden wir unter anderem sehen, dass Chinesisch, Türkisch und Deutsch klassische Vertreter dreier grundlegender Sprachtypen sind, die Wilhelm von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts systematisierte.
Ein göttliches Geschenk…
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott." Das Welterklärungsbuch Bibel setzt sich an vielen Stellen mit dem „göttlichen Geschenk“ der Sprache auseinander. Die Schöpfungsgeschichte erzählt, wie der Herr durch bloße Worte die Welt erschafft und seine Werke benennt. In Babylon bestraft Gott den Hochmut der Menschen, die einen Turm bis in den Himmel bauen wollen: Er lässt das Projekt scheitern, indem er ihre Sprache verwirrt. Das Neue Testament berichtet vom Pfingstwunder, bei dem der göttliche Geist über die Apostel kommt, so dass alle Besucher des Schawuot-Fests sie in ihrer eigenen Sprache reden hören.
Das Leben hat lange experimentiert, wie sich nützliche Informationen am besten bewahren lassen. Das langsame, zufällige Lernen der Gene wurde durch ein schnelles, erfahrungsabhängiges Lernen neuronaler Netze ergänzt.
Das bewusste Erleben neuronaler Zustände, das allein den Menschen auszeichnet, ist auch ohne Sprache möglich, da sich unser Denken vor allem in bildhaften Repräsentationen vollzieht: Babys können daher denken, noch bevor sie sprechen können. Doch zweifelsohne hat die revolutionäre Idee, Schallwellen, Gesten und Symbolen Bedeutungen zuzuordnen, uns Menschen eine fantastische neue Dimension erschlossen: Wir können unseren Artgenossen – sofern wir uns mit ihnen zuvor über die Benutzung eines gemeinsamen Zeichenvorrats verständigt haben – unsere Bewusstseinszustände mitteilen: Das ermöglicht es uns, unsere Erfahrungen und Gedanken mündlich und schriftlich zu fixieren und über Generationen hinweg zu bewahren.
…oder ein äußerst mangelhaftes Instrument?
Menschliche Kommunikation ist allerdings nicht frei von Mängeln. Das lässt weniger eine göttliche, als vielmehr eine evolutionäre Herkunft vermuten. Sobald wir uns der Sprache bedienen, sind Missverständnisse regelrecht vorprogrammiert. Denn die Zeichen, die wir den Dingen zuordnen, lösen bei unserem Gegenüber oftmals völlig andere mentale Repräsentationen aus.
Wie können wir sicherstellen, dass unsere Begriffe die Objekte dieser Welt tatsächlich auch eindeutig benennen? Erst recht, wenn es um Fremdsprachen geht, denen vielleicht andere Weltbilder zugrunde liegen: Wie lassen sich Wörter wie „Schadenfreude“, „Waldeinsamkeit“ oder „Wanderlust“ ins Englische oder Japanische übersetzen? Wie übersetzt man „cheers!“ ins Deutsche? Begrenzen am Ende die Limitationen unserer Sprache auch die Möglichkeiten unseres Denkens?
Doch bei aller Unzulänglichkeit des Werkzeugs Sprache: Ohne unsere Fähigkeit, Wissen mithilfe von Zeichen konservieren, kumulieren und kollektivieren zu können, wäre der explosionsartige Verlauf unserer kulturellen Evolution undenkbar.
An dieser Stelle sollten wir kurz erwähnen, dass es neben der natürlichen Sprache, die jeder Mensch spricht, auch ein universelles Kommunikationsmittel gibt, das in jeder Beziehung völlig eindeutig ist: die Mathematik. Einem Zitat von Galileo Galilei zufolge ist sie die Sprache, in der die Natur zu uns spricht. Dieser Sprache, deren Regeln keine Ausnahmen kennen, haben wir eine eigene Blog-Kategorie gewidmet.
Gemeinsame Ursprünge?
Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert wurde durch Arbeiten von Linguisten wie William Jones oder Willhelm von Humboldt offenbar, dass zahlreiche Sprachen in familiärer Beziehung zueinander stehen.
Die größte Gruppe, die indogermanischen, beziehungsweise indoeuropäischen Sprachen, umfassen solch unterschiedlich anmutende Mitglieder wie Walisisch, Deutsch, Tschechisch, Latein, Albanisch, Persisch oder Sanskrit. Daneben gibt es noch weitere wichtige Großfamilien, etwa die afroasiatischen oder die sinotibetischen Sprachen.
Könnten auch diese Familien ihrerseits einen gemeinsamen Ursprung haben? Nostratisch wäre nach Überzeugung etlicher Linguisten eine solche mögliche Makrofamilie. Eine gemeinsame Herkunft zahlreicher eurasischer und afrikanischer Sprachen bleibt allerdings hypothetisch und auch sonstige Verbindungen zwischen andern Makroclans sind nach dem heutigen Stand der Wissenschaft äußerst spekulativ. Das legt nahe, dass die frühen Vertreter unserer Spezies unser einzigartiges Kommunikationsinstrument gleich mehrfach unabhängig voneinander erfunden haben.
Wer mehr wissen will:
Humboldt, Wilhelm von (1836) „Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java“.
Eco, Umberto (1994) „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“, Beck.
Rauchhaupt, Ulf von (2016): „Sprechen Sie Nostratisch?“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online vom 15.06.2016.
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