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Sokrates und seine Vorgänger

Die ersten Naturwissenschaftler

Der erste Philosoph soll der Legende nach Thales von Milet gewesen sein. Einer Anekdote zufolge fiel er nachts, ganz in die Betrachtung der Sterne versunken, in einen Brunnen. Sehr zur Belustigung seiner Sklavin – sie hielt ihrem Herrn vor, dass er zwar die Dinge am Himmel verstehen möchte, darüber aber die Welt vor seinen Füßen vergessen habe.


Aus heutiger Sicht müssen wir allerdings anerkennen, dass die Gedanken der vermeintlich lebensfremden Philosophen die Geschichte der Menschheit ganz wesentlich geprägt haben.

Platon zufolge beginnt alle Philosophie mit der „Verwunderung“ über die Welt. Diese Verwunderung nahm – zumindest für das Abendland – um das Jahr 800 v. Chr. auf der zerklüfteten und kargen griechischen Halbinsel ihren Anfang. Hier waren nach und nach zahlreiche kleine Stadtstaaten entstanden. In den folgenden Jahrhunderten gründeten sie zunächst in Kleinasien, dann im Süden Italiens und schließlich im gesamten Mittelmeer- und Schwarzmeerraum zahlreiche Kolonien. In einer dieser Siedlungen, der kleinasiatischen Stadt Milet, soll Thales zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahrhunderts gelebt haben. Er dürfte wohl kaum der eingangs beschriebene Hans-guck-in-die-Luft gewesen sein. Nach dem Wenigen, was von ihm überliefert ist, war er eher praktisch veranlagt, weitgereist, aber auch der Lokalpolitik seiner Heimatstadt verbunden.

Griechische Büste eines Mannes mit Vollbart
Thales von Milet gilt gemeinhin als der erste Philosoph

Thales steht für eine neue Art zu denken, die damals in der griechischen Welt um sich griff. Man gab sich nicht mehr damit zufrieden, die wundersamen Erscheinungen der Welt durch das Wirken mächtiger Götter zu erklären, sondern wollte den Dingen auf den Grund gehen. Von nun an konkurrierte der Logos mit dem Mythos.


Thales war überzeugt, dass der Ursprung von allem im Wasser liegt: Das Land ruhe auf dem Wasser, aber auch die Nahrung und die Samen aller Lebewesen seien feuchter Natur. Dies ist die vielleicht erste uns bekannte naturwissenschaftliche Theorie – was Thales wiederum zum Ersten uns bekannten Philosophen machen würde. Anaximander, ein Schüler des neugierigen Mileters, widersprach seinem Meister. Er sah den Ursprung von Allem im Apeiron, einer spirituellen Kraft, die der Materie ihre Gesetze einhaucht. Anaximander gilt auch als der Schöpfer der ersten bekannten Evolutionstheorie, denn er bezeichnete die Fische als Vorfahren der Menschen und behauptete eine schrittweise Entwicklung von alten zu neuen Lebensformen. Für seinen Schüler Anaximenes war hingegen die Luft der Urstoff, aus dem alles entstand. Drei Philosophen, drei Meinungen.


Gemälde aus dem 16. Jahrhundert, das in pastellfarben einen Mann mit Glatze zeigt, der konzentriert in ein Buch schreibt
So stellte sich Raffael im 16. Jahrhundert den Pythagoras vor

Die ionische Aufklärung, ein neues Denken in Ursachen und Wirkungen, hatte in der griechischen Welt einen Stein ins Rollen gebracht. Um 530 v. Chr. gründete Pythagoras in der süditalienischen Kolonie Kroton eine sektenartige Gemeinschaft, die erste bekannte philosophische Denkschule. Ein wesentlicher Teil des Kultes der Pythagoreer war die Überzeugung, dass sich die Natur durch Zahlen offenbare. Harmonische Zahlenverhältnisse sind Ausdruck einer kosmischen Ordnung, deren Verständnis den Weg zu einem glücklichen Leben weist. Kein Wunder also, dass die Entdeckung irrationaler Verhältnisse die Glaubensgemeinschaft in eine tiefe Krise stürzte.


Heraklit, aus dem kleinasiatischen Ephesos, rund drei Jahrzehnte nach Pythagoras geboren, liebte es, seine Lehren vorwiegend in geheimnisvollen Sentenzen zu verbreiten, die ihm bereits in der Antike den Beinahmen „der Dunkle“ eintrugen. Seiner Ansicht nach liegt der Ursprung der Dinge im Feuer. Bekannter aber ist er für seine Überzeugung, dass die Ordnung der Welt auf einer stetigen Abfolge von Werden und Vergehen beruht. „Panta rhei“ – „alles fließt“ – so wurde seine Lehre später zusammengefasst. Für Heraklit ist die Welt nicht wie bei den Pythagoreern Harmonie, sondern gründet, ganz im Gegenteil, auf einem permanenten Konflikt, den verfeindete Prinzipien miteinander austragen. Dieser Kampf ist „der Vater aller Dinge“. Und weil die Gegensätze alles in Bewegung halten, können wir auch „nicht zweimal in denselben Fluss steigen“. Mit Heraklit hält erstmals das dialektische Denken, das Denken in Gegensätzen, Einzug in die Philosophie – eine Idee, die bis heute nachwirkt.


Parmenides, aus der süditalienischen Kolonie Elea, war überzeugt, dass nicht Wandel, sondern ein ewiges und unveränderliches Sein die Welt regiert – die erste uns bekannte Auseinandersetzung mit der Ontologie, der Grundlage der Metaphysik. Das Seiende mag seine Bauteile neu anordnen und sich uns damit nach außen immer wieder anders darstellen, die zugrundeliegenden Elemente aber sind stets dieselben. Den Zugang zum Seienden erhalten wir, so Parmenides, über unser Bewusstsein. Das Ding, das gedacht werden kann und der Gedanke, der es erzeugt, sind ein und dasselbe. Etwas, was es nicht gibt, können wir auch nicht in Gedanken fassen. Umgekehrt muss alles, was gedacht werden kann auch existieren. Neben der Ontologie finden wir bei Parmenides somit auch die Anfänge des Denkens über das Denken – eine Unterscheidung zwischen der Welt und dem sie betrachtenden Subjekt.


Ein spätmittelalterlicher Holzschnitt eines Mannes in einem Mantel mit Bart und  schütterem Haar
Spätmittelalterliche Darstellung des Schöpfers der Vier-Elementen-Lehre

Empedokles, um 490 v. Chr. in der sizilianischen Stadt Akragas geboren, kombinierte die Ursprungs-Theorien von Thales, Anaximenes und Heraklit zu der bekannten Vier-Elemente-Lehre, nach der die Welt aus Wasser, Feuer, Luft und Erde besteht – eine Vorstellung, die endgültig erst im 18. Jahrhundert durch Lavoisier widerlegt werden sollte. Weniger bekannt, aber für die Geschichte der Philosophie nicht weniger bedeutsam, ist sein mystisch-religiöses Weltbild. Wahrscheinlich war Empedokles während seiner Jugend ein Anhänger der Orphiker, einer insbesondere in den italienischen Kolonien einflussreichen religiösen Strömung, die sich auf den mythischen Sänger Orpheus berief. Kern des orphischen Glaubens war, dass die Seele nach dem Tod weiterlebt – einer der Ursprünge des Leib-Seele-Problems. Empedokles entwickelte daraus eine Reinkarnationslehre, bei der die Seele nach dem Tod in einen anderen Körper – Mensch, Tier oder Pflanze – wandert. In Empedokles‘ Universum kämpfen zwei Kräfte unablässig miteinander: Die Liebe vermag die Elemente für eine gewisse Zeit zu vereinen, bis der Hass sie wieder trennt. Nach einer Weile unterliegt der Hass jedoch wiederum der Liebe. Daher existieren alle zusammengesetzte Stoffe nur auf Zeit, eingebunden in einen von Liebe und Hass angetriebenen ewigen Kreislauf, dessen einzige Konstante lediglich die vier ursprünglichen Elemente sind. Auch die unsterblichen Seelen sind in diesem Zirkel gefangen. Einigen gelingt es durch ein tugendhaftes Leben aus dem Kreislauf auszubrechen und so zur zeitlosen Seligkeit im Kreise der Götter aufzusteigen.


Der um 460 v. Chr. in Thrakien geborene Demokrit führte einen Gedanken ein, dem eine ähnlich lange Karriere beschieden sein sollte, wie dem Leib-Seele Problem. Zusammen mit seinem Lehrer Leukipp schuf er die Vorstellung von der Existenz kleinster, ewig währender Teilchen. Sie sind der Urstoff aller Materie und damit Ursache aller Ereignisse der dinglichen Welt. Demokrit wird das Zitat zugeschrieben: „Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum. Alles andere ist Meinung.“ Diese Einsichten, die erstaunlich nahe an unserem heutigen wissenschaftlichen Weltverständnis sind, machen Demokrit zum Vater des Materialismus, einer rein gegenständlichen Welterklärung.

 

Der Mensch im Mittelpunkt

Um 450 v. Chr. waren auf dem griechischen Festland mit Theben, Korinth, Sparta und Athen einige größere Stadtstaaten entstanden. In ihren immer komplexer werdenden Gesellschaften wuchs der Bedarf an pragmatischeren Welterklärungen, als jenen, die die Philosophen bisher anzubieten hatten. Die Sophisten kamen dieser neuen Nachfrage entgegen. Sie zogen als Wanderlehrer durch die Lande, um gegen Bezahlung Rhetorik und Philosophie zu unterrichten. Anders als bei Thales, Heraklit, Parmenides, Empedokles und Demokrit steht nun nicht mehr die Natur, sondern der Mensch im Zentrum der Betrachtung. Der Mensch ist nach Protagoras, dem wichtigsten Vertreter der neuen Lehre, „das Maß aller Dinge“. Ihre anthropozentrische Perspektive verbanden die Sophisten mit einer Skepsis gegenüber den althergebrachten Autoritäten. So meinte Protagoras: „Was die Götter angeht, so ist es mir unmöglich, zu wissen, ob sie existieren oder nicht, noch, was ihre Gestalt sei“. (Hundert Jahre zuvor hatte ein gewisser Xenophanes bereits gespottet, dass wenn wir Pferde und Ochsen fragten, wie ihre Götter aussehen, diese Pferde- und Ochsengestalt hätten.)


In dem Maße, in dem man die Götter aus der Verantwortung entließ, fiel diese nun den Menschen zu. Einige Sophisten proklamierten erstmals die unerhörte Idee, dass alle Menschen frei und gleich seien, dass sie also weder versklavt werden können noch, dass Einzelne besondere Rechte in Anspruch nehmen dürfen. Derlei Anmaßungen, die das religiöse und weltliche Establishment infrage stellten, waren nicht ungefährlich, denn für Blasphemie und Rebellion konnte die Todesstrafe verhängt werden.


Die Denker aus den griechischen Kolonien und die Sophisten bezeichnen wir heute als Vorsokratiker. Auch wenn sich bei ihnen noch viel Mythisches findet, so trugen sie doch dazu bei, einfachen Glauben nach und nach durch den Logos zu ersetzen. Damit schufen sie das Fundament der abendländischen Philosophie. Damals entstand jenes kritische Denken, auf dessen Basis wir heute noch Wissenschaft betreiben. In nur 150 Jahren war der Keim einer neuen Weltsicht entstanden, die die westlichen Gesellschaften bis heute so stark prägt, dass wir sie leichtsinnigerweise für selbstverständlich halten.

 

Der methodische Zweifel des Sokrates

Nachdem Athen Anfang des 5. vorchristlichen Jahrhunderts zum politischen und kulturellen Zentrum Griechenlands aufgestiegen war, folgte mit dem langen Peloponnesischen Krieg (431 bis 404 v. Chr.) gegen den Rivalen Sparta der Niedergang. Nach dem Sieg Spartas etablierte sich eine Terrorherrschaft Athener Oligarchen, der über 1.000 politische Gegner zum Opfer fielen. Während die politische Bedeutung Athens zunehmend schwand, sollten drei Männer die klassische griechische Philosophie hier zu ihrem Höhepunkt führen.


Sokrates, der Erste dieses Dreigestirns, wird manchmal gerne als älterer, leicht verwahrloster Sonderling dargestellt, der tagein tagaus über die athenischen Plätze zog und seine Mitbürger in verwirrende Gespräche verwickelte. Was Tapferkeit sei, fragte er etwa. Führte sein Gesprächspartner standhafte Soldaten an, entgegnete Sokrates, dass auch Menschen, die sich auf das Meer hinauswagen, oder Armut, Krankheit und Schmerzen trotzen, tapfer seien. Schlug sein Gegenüber Beharrlichkeit als Definition vor, wandte Sokrates ein, dass dann auch dumme Sturheit Tapferkeit wäre. So beraubte er seine Gesprächspartner nach und nach aller vermeintlichen Gewissheiten. Seine skeptische Fragetechnik, mit der er hinter dem Besonderen das Allgemeine suchte, bezeichnete Sokrates als Mäeutik, als Hebammenkunst.


Sokrates empfängt im Kreis seiner Freunde den Becher mit dem tödlichen Schrierlingsgift
So stellte sich der Maler Jaques-Louis David im 18. Jahrhundert den Tod des Sokrates vor

Offenbar war diese Form ungefragter Geburtshilfe bei den meisten Athenern nicht besonders populär. 399 v. Chr. wurde Sokrates der „Gotteslästerung“ und „Verderbung“ der Jugend angeklagt. Der Philosoph hätte sich der drohenden Todesstrafe wohl entziehen können – bei Reue erfolgte meist eine Umwandlung in Exil oder eine Geldstrafe. Doch er zog es vor, den Schierlingsbecher zu leeren und als Märtyrer der freien Rede zu sterben.

Sokrates, so urteilte der römische Staatsmann Cicero fast vierhundert Jahre später, habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt. Anders als seine Vorgänger, die selbstbewusst umfassende Welterklärungstheorien verkündeten, meldete Sokrates überall methodischen Zweifel an: Unsere vermeintlichen Gewissheiten, so hat er uns gelehrt, stehen auf tönernen Füßen.

 

Wer mehr wissen will:

Maor, Eli (1989): „Dem Unendlichen auf der Spur“, Springer.

Bertrand Russell (2012): „Philosophie des Abendlandes”, Anaconda.

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