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Der Chemiebaukasten des Lebens

Aktualisiert: 1. Apr.

 

Der wunderbare Kohlenstoff

Falls es einen Lavoisier des 20. Jahrhunderts geben sollte, so wäre das zweifelsohne Linus Pauling (1901-1994). Die Beiträge des Amerikaners zu unserem Weltverständnis umspannen sämtliche Bereiche der modernen Chemie: Pauling verband Chemie mit Quantenphysik, führte das Konzept der Elektronegativität ein und erforschte darauf aufbauend die Natur der Bindungsformen. Neben Watson und Crick ist er einer der wichtigsten Mitbegründer der Molekularbiologie, jener Wissenschaft, die die atemberaubend weite Brücke zwischen toter Materie und der Welt des Lebendigen schlägt.[i] 


Scharzweiss-Fotographie des älteren Pauling; glattrasiert mit Stirnglatze
Linus Pauling

Die Statik für das organische Brückenende liefert ein Element, das auf den ersten Blick wenig spektakulär erscheint: Kohlenstoff. Doch Kohlenstoff verfügt über eine Reihe besonderer Eigenschaften, die es ihm ermöglichen, einen eigenen Chemiezweig, die organische Chemie, zu begründen. Kohlenstoffverbindungen zerspringen bei Belastung nicht wie spröde Steine, sondern sind weich, biegsam und anpassungsfähig. Diese Resilienz ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die das Leben auszeichnen.

Angesiedelt in der vierten Hauptgruppe der zweiten Periode steht der Kohlenstoff zwischen allen Fronten. Mit vier Valenzelektronen fallen ihm Entscheidungen grundsätzlich schwer, er wahrt zu beiden Rändern des Systems respektvollen Abstand: Ist es besser, Elektronen abzugeben oder aufzunehmen, um sich der Edelgaskonfiguration anzunähern? Dem Kohlenstoff stehen beide Optionen offen. Eine geringe Aktivierungsenergie reicht aus, um wahlweise mit Vertretern der linken oder rechten Hälfte des Periodensystems zusammenzugehen. Die kovalenten Allianzen, die auf diese Weise geschmiedet werden, sind wie ein guter Seemannsknoten: Sie sind einerseits stabil, lassen sich andererseits aber auch leicht wieder lösen.

Computergraphik einer langen Molekülkette
Organische Moleküle sind lang und komplex - das Rückgrat ist stets eine Kohlenstoffkette

Wasserstoff als Lieblingspartner

Bei Fragen der Partnerwahl hat der Kohlenstoff gewisse Präferenzen. Am liebsten bleibt er unter seinesgleichen und liiert sich über Atombindungen zu langen Ketten. Der zweitliebste Bindungspartner ist ihm der Wasserstoff. Aufgrund des geringen Elektronegativitätsunterschieds sind solche Verbindungen nach außen wenig polar. Kohlenwasserstoffe bauen daher keine Bindungen mit Wasser auf und können so im Gegensatz zu zahlreichen anorganischen Molekülen im feuchten Milieu ihre Strukturen gut erhalten.


Mit seinen Artgenossen hat Kohlenstoff verschiedene Paarungs-Optionen. Einfache Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen, bei denen die verbleibenden freien Elektronen an Wasserstoffatome gebunden sind, werden Alkane genannt. Da sie keine Neigung haben, weitere Atome oder Moleküle aufzunehmen, handelt es sich um so genannte gesättigte Kohlenwasserstoffe. Zur Familie der Alkane gehören Methan (CH4), Ethan (C2H6), Propan (C3H8) und Butan (C4H10), allesamt leicht brennbare und hochenergetische Gase, die zu Wasser und CO2 oxidieren. Zwei- und dreifach gebundene Kohlenwasserstoffe werden Alkene, beziehungsweise Alkine genannt. Anders als die satten Alkane, sind sie stets bereit, ihre bestehenden Mehrfachbindungen gegen neue Molekülgruppen zu tauschen; sie sind daher ungesättigte Kohlenwasserstoffe. 


Darstellung der beschriebenen Molekülketten
Von links nach rechts: Propan, Propen als typische Vertreter der Stoffgruppen der Alkane, Alkene und Alkine

Die Nomenklatur der Monsternamen

Im Gegensatz zu der recht übersichtlichen Welt der anorganischen Moleküle erblüht die Kohlenstoffchemie in unüberschaubarer Vielfalt. Das liegt vor allem daran, dass Kohlenstoff sehr lange und verästelte Ketten zu bilden vermag. Um bei der phantastischen Zahl von Anordnungsmöglichkeiten den Überblick zu behalten, haben die Chemiker ein Ordnungssystem eingeführt. Ist man mit dessen Namenskonvention vertraut, lässt sich aus der chemischen Bezeichnung der Aufbau des organischen Stoffs ableiten. Nehmen wir das Beispiel „Dimethylpropan“: Die Silbe „Prop-“ macht deutlich, dass es sich um eine lineare Kette aus drei Kohlenstoffatomen handelt. Die Endung „-an“ kennzeichnet die Kette als einfach gebunden. „Dimethyl“ stellt klar, dass vom mittleren Atom der Dreierkette zwei weitere Kohlenstoffatome seitlich verzweigen, deren Valenzelektronen allesamt an Wasserstoffatome gebunden sind.

Darstellung der symmetrischen Struktur des Moleküls
Fast ein Kunstwerk: Dimethylpropan

Neben Kohlenstoff und Wasserstoff gibt es noch eine Handvoll weiterer Elemente, die bei der organischen Chemie in der ersten Reihe mitspielen: Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, sowie die beiden Metalle Calcium und Magnesium. Aus ihnen entstehen „funktionelle Gruppen“, kleine Molekülbausteine, die sich an Kohlenwasserstoffe andocken und ihnen dadurch ganz spezifische Eigenschaften verleihen (das „R“ in der folgenden Tabelle steht stellvertretend für den angehängten Kohlenwasserstoff-Rest).

 

Funktionelle Gruppe

Kennzeichnung

Endung

Vorsilbe

Alkene

C Doppelbindung

-en

-

Alkine

C Dreifachbindung

-in

-

Halogenalkane

R-X (X = F, Cl, Br, I)

wie Alkane

wie Alkane

Alkohole

R-OH

-ol

Hydroxy-

Ether

R-C-O-C-R

-ether

-

Aldehyde

R-CHO

-al

Formyl-

Ketone

R-C=O

-on

Oxo-

Carbonsäuren

R-COOH

-säure

Carboxy-

Ester

R-COO-R

-ester

-

Amine

R-NH2

-amin

Amino-

Wichtige funktionelle Gruppen

 

Halogenalkane, zu denen unter anderem die Flurchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) gehören, sind beispielsweise gut fettlöslich. Das Anhängen einer einfachen Sauerstoff-Wasserstoffverbindung an eine Kohlenwasserstoffkette (R-OH) führt zur Entstehung eines Alkohols (bekanntester Vertreter ist der Trinkalkohol Ethanol). Alkohole sind sehr gut wasserlöslich; lässt man sie allerdings mit einer Säure reagieren, entsteht ein Ester, eine Stoffgruppe, deren Angehörige wiederum ausgesprochen wasserscheu sind. Eine für das Leben besonders wichtige funktionelle Gruppe sind die basischen und wasserlöslichen Amine, die auf der simplen Verbindung eines Stickstoffatoms mit zwei Wasserstoffatomen (R-NH2) beruhen.


Der Chemiebaukasten des Lebens

Verbindungen aus funktionellen Gruppen und Kohlenwasserstoffen werden als Monomere bezeichnet. Sie können sich ihrerseits zu Polymeren zusammenschließen, die sich mitunter zu monströsen Gebilden aus vielen Millionen Atomen entwickeln. Polymere lassen sich in vier fundamentale Stoffklassen einteilen: Proteine (Eiweiße), Saccharide (Kohlenhydrate), Lipide (insbesondere Fette) und Nukleinsäuren. Diese vier Polymerarten sind der Chemiebaukasten des Lebens.


Proteine sind die Alleskönner unter den Biomolekülen und prägen insbesondere das tierische Leben: Sie strukturieren Zellen, ermöglichen Bewegung, übermitteln Informationen, katalysieren biochemische Prozesse und bekämpfen Eindringlinge. Ihre Monomere sind die Aminosäuren, Verbindungen aus Carbonsäuren (R-COOH) und Aminogruppen.[ii] In der Natur findet sich eine Vielzahl von Aminosäuren, doch für das Leben sind nur jene 23 Varianten von Bedeutung, bei denen die Aminogruppe am zweiten Atom der Kohlenstoffkette andockt. Die genauen biochemischen Eigenschaften eines Proteins werden durch die Reihenfolge der Aminosäuren bestimmt. Proteine sind sehr empfindlich gegenüber hohen Temperaturen. Hitze verändert ihre Struktur, sie denaturieren, was sich jedes Mal leicht beobachten lässt, wenn man ein Ei in eine heiße Pfanne schlägt.

Kohlenhydraten kommen zwei wichtige Aufgaben zu. So wie Proteine der wichtigste Baustoff des tierischen Lebens sind, bestimmen die Kohlehydrate das Erscheinungsbild der Pflanzen. Das macht sie zum mit Abstand größten Bestandteil der globalen Biomasse. Ihre zweite Rolle ist die des unmittelbaren Energielieferanten aller Lebewesen. Aus funktioneller Sicht handelt es sich bei Kohlehydraten um Aldehyde und Ketone, deren Moleküle mindestens zwei Hydroxygruppen (R-OH) enthalten. Dadurch erklärt sich die enge Beziehung zwischen Kohlehydraten und Alkoholen, die es erlaubt, aus Obst und Getreide Wein, Bier und Schnaps zu machen. Wie die Proteine beruhen auch die Kohlenhydrate auf einem Baukastensystem. Zwei wichtige Grundbausteine sind die Einfachzucker „Fruchtzucker“ (Fructose) und „Traubenzucker“ (Glucose), die lebende Organismen unmittelbar mit Energie versorgen.

 

Darstellung der jeweiligen Struktur der drei Stoffgruppen
Links: die allgemeine Struktur einer Aminosäure; Mitte: der Einfachzucker Glucose; rechts: Buttersäure, eine einfache Fettsäure

Aus dem Zusammenschluss von Einfachzuckern entstehen zunächst Zweifachzucker, wie Malzzucker (Maltose) und Milchzucker (Laktose). Einfach- und Zweifachzucker schließen sich wiederum zu Vielfachzuckern (Polysacchariden) zusammen, den Hauptbestandteilen von Gräsern, Blättern, Holz und Stärke. Im Tierreich spielen Vielfachzucker außerhalb der Energieversorgung eine eher untergeordnete Rolle. Sie finden sich dort vor allem in Form des Polysaccharids Chitin, dem wichtigsten Baustoff der Außenskelette von Insekten, Spinnentieren und Krebsen.

Ein hellgrüner Bambuswald
Eine der unzähligen Erscheinungsformen von Vielfachzuckern

Die dritte Gruppe biochemischer Makromoleküle sind die Lipide, ein Sammelbegriff für eine recht heterogene Stofffamilie, die vor allem die Gemeinsamkeit verbindet, aufgrund ihrer fehlenden Polarität ziemlich wasserscheu zu sein. Zu den Lipiden gehören pflanzliche und tierische Fette aber auch Wachse, Terpene und Phospholipide. Aus biochemischer Sicht handelt es sich um Veresterungen des dreiwertigen Alkohols Glycerol (C3H8O3) mit langen, zumeist unverzweigten Kohlenwasserstoffketten, die als Fettsäuren bezeichnet werden.

Fette sind ausgesprochen energiereich und eignen sich daher hervorragend als Speichermedium. Tierische Fette haben einen relativ hohen Schmelzpunkt, denn sie weisen in aller Regel einen bedeutsamen Anteil fast unpolarer gesättigter Fettsäuren auf, in denen die Van-der-Waals-Kräfte den Schmelzpunkt nach oben treiben. Rindertalg etwa, wie er im traditionellen britischen Plumpudding Verwendung findet, beginnt erst ab 40° Celsius zu schmelzen; die Energie der menschlichen Körpertemperatur reicht nicht, um die Ketten aufzubrechen und das Fett zu verflüssigen, was die Süßspeise zu einem gewöhnungsbedürftigen Geschmackserlebnis macht.


Pflanzliche Fette basieren hingegen auf ungesättigten Fettsäuren, denen die reaktionsfreudigeren Alkene und Alkine zugrunde liegen. Sie verflüssigen sich bereits bei niedrigeren Temperaturen – der Grund, warum Olivenöl am Gaumen nicht den gleichen Eindruck hinterlässt, wie Rindertalg.


Zu der bunten Welt der Terpene gehören Carotinoide, die nicht nur Karotten, sondern auch Tomaten, Bananen, Eigelb und dem Herbstlaub seine warmen Farbtöne verleihen, Steroide als Grundbausteine von Vitaminen und Sexualhormonen sowie Phospholipide, die als grundlegende Module von Biomembranen, die Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur ziehen.


Die letzte der vier grundlegenden Biomolekülgruppen sind die Nukleinsäuren, Konglomerate aus Einfachzuckern und stickstoffhaltigen Basen, zusammengehalten durch einen Kitt aus Phosphorsäuren. Diesen höchst komplexen Strukturen kommt eine ganz besondere Rolle zu: Mit ihrer Hilfe speichert die Natur nicht weniger als ihre Bauanleitungen für das Leben.

 

Der Sprung in die Welt des Lebendigen

Das Zusammenspiel der vier biochemischen Stoffklassen ermöglicht den fast unvorstellbar weiten Sprung von toter Materie zu belebter Natur. In letzter Konsequenz sind damit auch die dem Leben zugrundeliegenden physiologischen Vorgänge reine Physik. Doch um das dem Leben innewohnende Potential zu entwickeln, bedurfte es noch eines Mechanismus, der auf einem ganz anderen Prinzip beruhte, als die physikalischen Naturgesetze.


Mit diesem Blogbeitrag endet die Artikelserie „Chemie“

 

 

Wer mehr wissen will:

Winter, Arthur (2006) „Organische Chemie für Dummies“, Wiley

 

Bildnachweise:


[i] Pauling ist unter den großen Wissenschaftlern auch deshalb eine Ausnahme, weil er gleich zweimal mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde: für seine Leistungen im Bereich der Chemie und neun Jahre später mit dem Friedensnobelpreis für sein Engagement gegen Atomwaffen. Eine doppelte Nobelpreisauszeichnung in zwei verschiedenen Disziplinen erhielt außer ihm bisher nur Marie Curie. 

[ii] Kurze Ketten von Aminosäure-Monomeren werden als Peptide bezeichnet. Erst wenn die Anzahl der verbundenen Aminosäuren etwa 100 übersteigt, spricht man von Proteinen.

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