Makroökonomie: Die sichtbare Hand des Staates
- Jens Bott
- 10. Mai
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Mai
Schwarzer Freitag
Den Schwarzen Freitag hat es nie gegeben. Der Dow-Jones-Index kam vielmehr bereits am Mittwoch, dem 22. Oktober 1929 ins Rutschen. Am folgenden Donnerstag fiel er von 326 auf 299 Punkte. Der Absturz auf 230 Zähler erfolgte am Montag und Dienstag der folgenden Woche. Tatsächlich schaffte der Index am Freitag, den 25.Oktober sogar ein kleines Plus. Auch wenn der Freitag dafür fälschlich angeklagt wurde: Der New Yorker Börsencrash Ende Oktober hatte die größte Wirtschaftskrise der Neuzeit eingeläutet; die wilden Zwanziger Jahre waren mit einem Schlag vorbei. Das kommende Jahrzehnt würde ein ganz anderes Gesicht haben: Ein mehrjähriger Abschwung führte zu einer massiven Deflation, während der sich die Geldmenge in den USA um 30% verringerte. Die Industrieproduktion halbierte sich fast und nahezu jede zweite Bank ging in Konkurs. 1933, am Tiefpunkt der Krise, wies der Handel zwischen den Industrienationen nur noch ein Drittel des Wertes von 1929 auf. Die dramatischste Folge aber war eine lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit in Europa und Nordamerika. Vier Jahre nach Beginn der Depression waren in den Vereinigten Staaten jeder vierte und in Deutschland jeder dritte Werktätige arbeitslos. In vielen Ländern, insbesondere in Frankreich und Deutschland erhielten radikale Parteien massiven Zulauf. Die USA und Deutschland, als die am stärksten betroffenen Staaten, sollten die Große Depression erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre überwinden.

Der Arbeitsmarkt tickt anders
Die Welt war aus den Fugen und die herrschende ökonomische Theorie hatte weder Erklärung noch Rat. Nach den Dogmen der Neoklassik hätten die aus dem Lot gebrachten Märkte innerhalb kürzester Zeit ihr Gleichgewicht von allein wiederfinden müssen. Doch ausgerechnet der Arbeitsmarkt, bei dem die Haushalte die Anbieter und die Unternehmen die Nachfrager sind, gehorchte offenbar anderen Regeln. Es gab Sand im Getriebe des wirtschaftlichen Räderwerks: Ein riesiges Arbeitsangebot stand dauerhaft einer zu geringen Nachfrage gegenüber. Der Klassiker Jean-Baptiste Say hatte noch behauptet, dass dies unmöglich sei, da jedes Angebot seine eigene Nachfrage schaffe: Haushalte stellen den Unternehmen ihre Arbeitskraft zur Verfügung. Die Unternehmen kombinieren diese mit den beiden anderen Produktionsfaktoren Boden und Kapital zu Gütern und Dienstleistungen, die sie wiederum an die Haushalte verkaufen. Da dieser Kreislauf nicht mehr Güter herstellen kann, als die Haushalte später mit ihren Löhnen zu kaufen vermögen, war nach Says Überzeugung ein Überangebot schlicht unmöglich.

Dass die Selbstheilungskräfte des Marktes dauerhaft versagen und infolgedessen ganze Volkswirtschaften in einer Depression verharren können, ließ Zweifel an der bisherigen ökonomischen Theorie aufkommen. So wie ein Organismus anderen Gesetzen gehorcht als eine einzelne Zelle, waren makroökonomische Erscheinungen offenbar etwas grundlegend anderes als die bloße Aggregation mikroökonomischer Prozesse. Auch hier war das Ganze mehr als die Summe seiner Teile.
Keynes stellt die Makroökonomie auf eine neue Grundlage
Der Engländer John Maynard Keynes (1883-1946), im gleichen Jahr wie Joseph Schumpeter geboren, revolutionierte in den 1930er Jahren die Wirtschaftswissenschaften, indem er die auf Haushalte und Unternehmen fokussierte neoklassische Betrachtung zu einem umfassenden makroökonomischen Kreislaufmodell erweiterte. Im Zentrum dieser Erweiterung stand ein gewichtiger neuer Akteur: der Staat. In der Tat ist der Staat tief mit modernen Volkswirtschaften verwoben. Mit den von Bürgern und Unternehmen erhobenen Steuern und Abgaben organisiert er zum einen mittels Transferleistungen die Umverteilung der Vermögensverhältnisse und wirkt damit der von Pareto beschriebenen Konzentration von Reichtum im Interesse des sozialen Friedens entgegen. Zum andern finanziert er mit seinen Einnahmen staatstypische Dienste. Neben innerer und äußerer Sicherheit sowie allgemeiner Verwaltung bietet er vor allem Leistungen an, die eine landesweite, teure Infrastruktur erfordern, wie Schulen, Eisenbahnen, Post- und Telekommunikation. Hier tritt er teils als Monopolist auf, teils steht er in Konkurrenz zu privaten Anbietern. Auf der Nachfrageseite agiert der Staat vor allem als der zumeist mit Abstand größte Arbeitgeber einer Nation.

Die Sonderrollen von Vater Staat
Eine ganz besondere Rolle kommt Vater Staat zu, weil er die Währung kontrolliert. Er druckt das Geld, das den Güteraustausch ermöglicht und steht mit seiner institutionellen Macht für dessen Wert ein. Durch sein Notenpressen-Monopol beherrscht er die im Umlauf befindliche Geldmenge. Eine außerordentlich schwierige Aufgabe. Denn ein Euro, Dollar oder Yuan repräsentiert im Wirtschaftskreislauf letztlich den soundsovielten Teil des Wertes aller Waren und Dienstleistungen, die in einem gegebenen Zeitraum durch die Bevölkerung eines Landes geschaffen werden. Da sich der gemeinsam erwirtschaftete Reichtum von Jahr zu Jahr verändert, muss auch die Geldmenge laufend an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst werden.
Was diese Aufgabe schwierig macht, ist, dass der Geldmengenbedarf sowohl von der Anzahl der hergestellten Güter als auch von deren Preisänderungen abhängt. Passen Geldmengenerhöhung und Wirtschaftswachstum nicht zueinander, entsteht Inflation oder Deflation. Inflation bedeutet einen Kaufkraftverlust, das heißt, sie reduziert die Fähigkeit aller Beteiligten, Geld in Güter umtauschen zu können. Würde der Staat über Nacht die Geldmenge verdoppeln, entstünde eine Teuerung von 100%. Für die Menschen hätte dieser hypothetische Fall allerdings keine praktische Bedeutung: Das Güterangebot wäre unverändert und neben den Konsumgüterpreisen würden sich auch die Löhne verdoppeln.[i] Anders sieht es aus, wenn das staatlich kontrollierte Geldmengenwachstum geringfügig über dem liegt, was nötig wäre, um Wirtschaftswachstum und Teuerung auszugleichen. Sofern sie nicht durch Lohnsteigerungen kompensiert wird, kommt diese Form der Inflation faktisch einer Enteignung gleich. Inflation ist grundsätzlich immer ein Problem. Bei moderaten Inflationsraten von 2%-3% sprechen die Ökonomen von der Geldwertillusion, weil die schleichende Entwertung des Geldvermögens von den Haushalten oft nicht als solche wahrgenommen wird. Tatsächlich aber sieht ein Haushalt, der bei konstantem Einkommen jedes Jahr 3% mehr für den gleichen Warenkorb ausgeben muss, seine Kaufkraft nach etwa 24 Jahren halbiert.
Inflation – die schleichende Enteignung
Bei Inflationsraten um die 10% verlieren die Preise ihre Signalfunktion für Kaufentscheidungen. Es entstehen Lohn-Preis-Spiralen: Die Arbeitnehmer fordern höhere Löhne, auf die die Arbeitgeber wiederum mit Preiserhöhungen reagieren, die ihrerseits wieder höhere Lohnforderungen nach sich ziehen. Gerät die Inflation ganz außer Kontrolle, kann sie Staaten dramatisch destabilisieren, so wie im Deutschland der frühen 1920er Jahre oder in Simbabwe, wo fast 100 Jahre später die jährliche Inflationsrate bei 500% lag.

Das durch den Staat in Umlauf gebrachte Geld spielt im kapitalistischen Wirtschaftssystem noch eine weitere wichtige Rolle. Da die Produktion bei hochgradig arbeitsteiligen Herstellungsprozessen dem Konsum zeitlich weit vorausgeht, müssen die Unternehmen ihre Investitionen und Löhne zunächst mit fremdem Geld finanzieren, bevor sie selbst Einnahmen erzielen. Das für diese „Produktionsumwege“ nötige Geld stellen überwiegend die Haushalte zur Verfügung. Der Teil ihres Einkommens, der nicht in den Konsum fließt, wird durch Institutionen aufgenommen, die die makroökonomische Theorie etwas umständlich als „Kapitalsammelstellen“ oder „Finanzintermediäre“ bezeichnet. Diese Einrichtungen, vor allem Banken, haben die Aufgabe Geldangebot und Geldnachfrage zusammenzuführen, um damit kapitalintensive Bedürfnisse von Unternehmen und privaten Haushalten, wie Großinvestitionen und Immobilienprojekte, über Kredite zu finanzieren. Ohne solche Finanzbeziehungen wäre der Kapitalismus undenkbar.
Was sind eigentlich Zinsen?
Aus Sicht der Finanzmärkte ist Geld ein Gut wie jedes andere: Es hat einen Preis, der sich aus Angebot und Nachfrage ergibt. Dieser Preis ist der Zins. Mit ihm kommt der Faktor Zeit in die ökonomische Betrachtung, eine Dimension, der die neoklassische Theorie noch wenig Beachtung geschenkt hatte. Der Zins bringt zum Ausdruck, dass ein Betrag heute und derselbe Betrag morgen nicht das gleiche sind. 3% Zinsen pro Jahr bedeuten, dass ein Kreditnehmer, der heute 100 Euro erhält, dem Kreditgeber in einem Jahr 103 Euro zurückzahlen muss. Für beide sind 100 Euro heute und 103 Euro in einem Jahr somit äquivalent. So wie die Inflation ist auch der Zins eine zentrale Größe der makroökonomischen Theorie. Er setzt sich aus drei wichtigen Komponenten zusammen. Er beinhaltet erstens eine Prämie auf den Verzicht des Kreditgebers das Geld zum jetzigen Zeitpunkt selbst anderweitig verwenden zu können; es berücksichtigt also dessen Opportunitätskosten. Zweitens enthält er eine Risikoprämie dafür, dass manche Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlen werden. (Der italienische Ökonom Ferdinando Galiani bezeichnete den Zins bereits Mitte des 18. Jahrhunderts als den „Preis für das Herzklopfen“ des Gläubigers.)[ii] Die dritte Komponente des Zinses ist die Kompensation für den inflationsbedingten Kaufkraftverlust: Bei einer Inflationsrate von 2% schmilzt der nominale Betrag von 3% auf einen realen Zins von nur 1%.
Auch bei der Entstehung des Geldpreises hat der Staat seine Finger im Spiel. Über die Leitzinsen bestimmt er die Bedingungen, zu denen sich die Geschäftsbanken bei der staatlichen Zentralbank verschulden können. Er nimmt somit wesentlichen Einfluss auf den Zinsmarkt, an dem sich die Kreditkonditionen für Investitionsprojekte der Haushalte und Unternehmen bilden.
Auch den Außenhandel möchte der Staat gerne steuern – nicht erste seit Trump
Der letzte wichtige Sektor der makroökonomischen Kreislaufanalyse ist das Ausland. Ihm hatte bereits die klassische Theorie einige Aufmerksamkeit gewidmet, indem sie die Vorteile des internationalen Handels für alle Beteiligten hervorhob. Aus makroökonomischer Sicht interessieren vor allem die Nettoexporte, der Saldo der Zahlungsströme aller Güter, die ins Ausland verkauft werden abzüglich jener, die aus dem Ausland bezogen werden. Da die Verkäufer Rechnungen normalerweise in ihrer Landeswährung stellen, gibt es auch für Fremdwährungen einen Marktmechanismus. Angebot und Nachfrage bestimmen den Wechselkurs, der den Preis für eine andere Währung festlegt. Je grösser die Nachfrage, desto höher der Kurs und desto teurer die Importe.

Auch der Auslandssektor ist nicht frei von staatlicher Einflussnahme. Zum einen können bestimmte Güter subventioniert werden, um ihren Export zu erleichtern oder um sie vor billigen ausländischen Importen zu schützen. Zum anderen kann der Staat ausländische Güter, in ebenfalls bester merkantilistischer Manier, mit Zöllen belegen. Für Exportnationen, also Länder, die mehr exportieren als importieren, besteht von staatlicher Seite zudem die Versuchung, etwa durch massive Aufkäufe von Fremdwährungen oder Erhöhung der Geldmenge, den Wechselkurs der eigenen Währung zu schwächen. Aus neoklassischer Sicht führen all diese Eingriffe allerdings lediglich dazu, dass die natürlichen Knappheitssignale der Preise verzerrt werden.
Ein komplexes Kreislaufmodell
Aus dem ursprünglich einfachen Modell ist ein komplexes Beziehungsgeflecht geworden; ein makroökonomischer Kreislauf, in dem neben Haushalten und Unternehmen auch Staat, Kapitalsammelstellen und Ausland durch vielfältige Geld-, und Güterströme miteinander verbunden sind. Dabei ist es allein dem Staat möglich, auf alle anderen Sektoren spürbaren Einfluss zu nehmen.
Wie kann nun für ein solch verwobenes System der von Adam Smith beschriebene Reichtum einer Nation gemessen werden? Auch hierfür stammt das grundlegende Konzept von Keynes. Indem er Finanzbuchhaltung der Unternehmen und Quesnays Kreislaufanalyse verband, schuf er den Kern dessen, was wir heute als „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ bezeichnen. Ihre Aufgabe ist es, das Volkseinkommen zu bestimmen, gemessen in Form des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Im Wesentlichen ist das BIP der aufsummierte Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum hergestellt wurden.[iii] Konkret setzt es sich aus vier Elementen zusammen: dem Konsum der Haushalte, den Investitionen der Unternehmen, dem Nettoexport, sowie den Staatsausgaben.
Betrachten wir ein stark vereinfachtes Beispiel, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie das BIP entsteht und wie sich nominales und reales Volkseinkommen voneinander unterscheiden (Das Beispiel basiert auf David Ricardos Darstellung der komparativen Vorteile, mehr dazu hier.) Wenn Portugal in einem bestimmten Jahr nichts anderes produziert als 100 Fässer Wein und diese für 200 Euro pro Fass verkauft, beträgt das Bruttoinlandsprodukt 20.000 Euro. Das BIP kann durch die Haushalte konsumiert, durch den Staat aufgekauft oder ins Ausland exportiert werden.[iv] Werden im folgenden Jahr 110 Fässer zu einem Stückpreis von 220 Euro verkauft, steigt das Volkseinkommen dadurch auf 24.200 Euro, ein nominaler Zuwachs von 21%. Wie bei Löhnen und bei Zinsen, muss aber auch in diesem Fall zwischen realem Wachstum und dem Schleier, den das Geld über die Betrachtung legt, unterschieden werden.

Ein Teil des Anstiegs ist nämlich durch Inflation entstanden, denn jedes Fass kostet nun 10% mehr als im Jahr zuvor. Einen unverfälschten Blick auf die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft erhalten wir erst durch die Betrachtung des realen BIP. Dazu müssen wir den Inflationseffekt herausrechnen, indem wir die hergestellten Mengen mit den Preisen des Vorjahres bewerten. Bei einem Preis von 200 Euro ergibt sich für die 110 Fässer ein reales, das heißt inflationsbereinigtes Volkseinkommen von 22.000 Euro, das die um 10% gestiegene Fassproduktion widerspiegelt.
Keynes‘ „General Theory“
Mit dem makroökonomischen Kreislaufmodell und der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hatte Keynes nun Werkzeuge an der Hand, mit denen sich die Einflussfaktoren der Konjunkturzyklen analysieren ließen. Im Mittelpunkt stand die Suche nach möglichen Wegen aus der Großen Depression. 1936 erschien „The General Theory of Employment, Interest and Money“ – Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, bis heute eines der zentralen Werke der Wirtschaftswissenschaften.
Ausgangspunkt von Keynes‘ Überlegungen waren die Besonderheiten des Arbeitsmarkts. Nach neoklassischer Vorstellung müssten bei einem Überangebot die Löhne sinken, bis ein neues Gleichgewicht entsteht, das den Markt wieder räumt. Während eine gewisse Arbeitslosigkeit, bedingt durch Fluktuation und den von Schumpeter beschriebenen strukturellen Wandel auch in gut funktionierenden Volkswirtschaften nie vollständig vermieden werden kann, hatte die Weltwirtschaftskrise erstmalig allen vor Augen geführt, dass eine Depression eine langjährige massenhafte Unterbeschäftigung mit verheerenden gesellschaftlichen Folgen bedeutet. Die Ursache des Problems sah Keynes in der Starrheit der Löhne. Die Arbeitnehmer, oft gewerkschaftlich organisiert, sind nicht bereit, Kürzungen ihrer Einkommen hinzunehmen.[v] Die dadurch entstehende Staumauer verhindert den natürlichen Kräfteausgleich. Da die Löhne nicht gesenkt werden können, haben die Unternehmen nur die Möglichkeit, Menschen zu entlassen. Damit beginnt eine Abwärtsspirale für den gesamten Wirtschaftskreislauf: Die Arbeitslosen schwächen die Nachfrage, die Produzenten müssen weitere Arbeitnehmer entlassen, die das Heer der Menschen, die angstvoll in die Zukunft blicken, weiter vergrößern. Wenn sich bei Haushalten und Unternehmen dann ein allgemeiner Pessimismus breitmacht, der Konsum und Investitionen lähmt, wird die Rezession zu einer Depression.[vi] Es fehlt dann jeglicher Impuls, um Angebot und Nachfrage wieder auf ein höheres Niveau zu bringen.
Der Ausweg, den Keynes in seiner „General Theory“ vorschlägt, erscheint ungewöhnlich: Wenn Haushalte und Unternehmen in der Depression verharren, muss der Staat in die Bresche springen. Er kann den Teufelskreislauf durchbrechen, indem er seine Nachfrage trotz der widrigen Umstände massiv erhöht. Tatsächlich hatten fast alle Regierungen während der Weltwirtschaftskrise genau das Gegenteil davon getan: Sie hatten, wie Haushalte und Unternehmen, aufgrund massiv eingebrochener Einnahmen ebenfalls ihre Ausgaben eingeschränkt und die Anzahl der Staatsbediensteten reduziert.
Blutspende statt Aderlass
Wie Quesnay 200 Jahre zuvor, hatte Keynes erkannt, dass ein weiterer Aderlass für einen bereits geschwächten Patienten nicht unbedingt die beste Medizin ist. Keynes bezeichnete seine Therapie als „deficit spending“. Die staatlichen Investitionen sollen den Konjunkturmotor wieder anwerfen und die Richtung der Spirale umdrehen. Als erstes würden die Hersteller staatlicher Investitionsgüter neue Arbeitnehmer einstellen, die ihrerseits die Nachfrage nach Konsumgütern beleben. Der Funke soll auf die Konsumgüterhersteller überspringen, die dann ebenfalls neue Arbeitskräfte rekrutieren.
Dieser Impuls muss zwangsläufig durch die Aufnahme von Schulden finanziert werden. In Zeiten guter Konjunktur, wenn Steuern und Abgaben erneut sprudeln, soll der Staat dann die während der Krise aufgenommenen Kredite wieder zurückzahlen. Zudem kann in Hochphasen eine zurückhaltende staatliche Ausgabenpolitik den Motor vor Überhitzung schützen und der Wirtschaft bei sich abkühlender Konjunktur zu einer „weichen Landung“ verhelfen.
Keynes‘ Anspruch war überaus vermessen. Letztlich verhieß er nicht weniger, als dass der Staat Konjunktur machen kann, wie ein Regengott den Regen. Bei der Darstellung seiner Gedanken hatte Keynes, obwohl selbst studierter Mathematiker, konsequent auf jegliche Differentialgleichung verzichtet. Da dies nicht den Gepflogenheiten der herrschenden ökonomischen Theorie entsprach, sah sich sein Landsmann John Richard Hicks genötigt, eine mathematisierte Darstellung der keynesianischen Idee zu veröffentlichen, das IS-LM-Modell. Es fasst die Quintessenz des Keynesianismus auf recht einfache Weise zusammen:

Obwohl es auf den ersten Blick ähnlich aussieht, darf das IS-LM-Modell keinesfalls mit Marshalls Marktmodell verwechselt werden. Das neoklassische Marktdiagramm stellt immer nur einen bestimmten Markt dar. Das IS-LM-Modell hingegen ist die Repräsentation des Zusammenhangs zweier besonderer Märkte: Die Ordinate stellt den Geldmarkt dar, mit dem Zinssatz als dem Preis des Geldes; die Abszisse zeigt das reale Bruttoinlandsprodukt, den inflationsbereinigten Wert aller im Land hergestellten Waren und Dienstleistungen. Die von oben nach unten verlaufende IS-Kurve ist die graphische Darstellung aller Gleichgewichtszustände auf dem Investitionsgütermarkt, die sich für die verschiedenen Kombinationen von Zins und realem Volkseinkommen ergeben. Das „I“ steht dabei für Investitionen, das „S“ für Ersparnisse (savings). Grundsätzlich besagt die Kurve, dass Haushalte, Unternehmen und Staat bei niedrigeren Zinsen mehr investieren und damit das Bruttoinlandsprodukt vergrößern.
Der zweite Markt wird durch die von unten nach oben verlaufende LM-Kurve dargestellt. Dabei steht „L“ für Liquiditätspräferenz und „M“ für das Geldangebot (money supply). Der Kurvenverlauf besagt, dass mit steigenden Zinsen die Bereitschaft der Haushalte zunimmt, auf gegenwärtigen Konsum zu verzichten und das Ersparte dem Finanzmarkt zur Verfügung zu stellen. Die LM-Kurve ist somit die Abbildung aller Gleichgewichte von Geldangebot und Geldnachfrage, wobei die Keynesianer von einer konstanten Geldmenge ausgehen. Am Schnittpunkt der beiden Kurven stimmen die Bereitschaft der Sparer den Investoren Geld zur Verfügung zu stellen und der Wunsch der Anleger, dieses Geld auch zu investieren, überein. Finanzmarkt und Gütermarkt sind in einem Gleichgewicht, aus dem sich ein bestimmtes Niveau des Volkseinkommens ergibt. Erhöht der Staat nun durch seine expansive Ausgabenpolitik die Nachfrage nach Investitionsgütern, verschiebt sich die IS-Kurve nach rechts. Der neue Gleichgewichtspunkt mit der LM-Kurve entspricht einem höheren Volkseinkommen – allerdings um den Preis eines höheren Gleichgewichtszinses. Dieser Effekt soll die Volkswirtschaft aus der Depression holen.
Der Staat als mächtigster Player einer Volkswirtschaft?
Keynes‘ Paradigmenwechsel der Makroökonomie wollte den neoklassischen Nachtwächterstaat aus seinem Dornröschenschlaf wecken und ihm im Wirtschaftskreislauf eine aktive Rolle zuweisen. Um den Preis einer vorübergehenden Verschuldung sollte der Staat das konjunkturelle Feuer neu entfachen. Es sollte nicht lange dauern, bis diese Forderung heftigen Widerspruch hervorrief. Mehr dazu im nächsten Wirtschaftsblog…
Wer mehr wissen will:
Keynes, John Maynard (2017) „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, Duncker & Humblot.
Bildnachweise
Anmerkungen
[i] Auf natürlichem Weg entsteht Inflation etwa, wenn eine hohe Nachfrage es den Anbietern erlaubt, die Preise zu erhöhen oder es ihnen gelingt, höhere Kosten über den Preis an die Verbraucher weiterzugeben.
[ii] Vgl. Galiani (1750) S. 353.
[iii] Illegale Aktivitäten wie Schwarzarbeit oder Drogenhandel und unbezahlte Tätigkeiten, wie sie etwa innerhalb der Haushalte oder durch Ehrenämter erbracht werden, sind bei der Berechnung ausgeschlossen. Erfasst werden also nur Leistungen, denen eine bezahlte legale Gegenleistung gegenübersteht. Inwieweit das BIP einen sinnvollen Wohlstandsindikator darstellt, ist unter Ökonomen umstritten, da es Aspekte wie allgemeine Lebensqualität, Verteilungsgerechtigkeit oder Umweltschutz nicht berücksichtigt.
[iv] Wir unterstellen in dem einfachen Beispiel also, dass die Winzer in diesem Jahr nichts investieren.
[v] Aus ökonomischer Sicht sind Gewerkschaften Interessenverbände von Konkurrenten zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele und stellen in diesem Sinne Kartelle dar. Die Weigerung, der Arbeitnehmer, Einkommenseinbußen hinzunehmen, lässt sich gut mit Kahnemans Verlustaversion erklären.
[vi] Eine Rezession liegt nach der heute üblichen Definition dann vor, wenn das Bruttoinlandsprodukt während zwei aufeinanderfolgender Quartale gegenüber den Vorquartalen schrumpft. Von einer Depression spricht man, wenn eine Volkswirtschaft auf einem Konjunkturtief ungewöhnlich lange verharrt.
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