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AutorenbildJens Bott

Die Ursprünge der politischen Parteien

Aktualisiert: 25. Nov.

 

 

Eine neue Gesellschaftsordnung

Die Frage, welche Teilhabe den verschiedenen Gesellschaftsklassen an der Macht zukommen soll, beschäftigt die politische Philosophie seit mehr als 2.000 Jahren. Seit Platon lag den Analysen zunächst ein einfaches Drei-Stände-Modell zugrunde. Die antike Ordnung von Monarch, Adel und Volk wich im Mittelalter infolge der neuen Gewaltenteilung zwischen weltlicher und geistlicher Macht der Einteilung Adel, Klerus und Volk. Mit Beginn der Neuzeit aber begann sich in Europa die Volksschicht auszudifferenzieren. Mit dem Bürgertum war in den Städten eine neue, selbstbewusste Klasse entstanden. Ärzte, Apotheker, Anwälte, Kaufleute, Staatsdiener, Lehrer, Künstler und Handwerker hatten Zugang zu dem rasch wachsenden Wissen, das Naturforscher und Philosophen erzeugten. Und meist machten sie besseren Gebrauch davon als Adel und Klerus. Wer gebildet war, glaubte an technischen und gesellschaftlichen Fortschritt, förderte Universitäten, Kunst, Musik und Wissenschaften. Im 15. Jahrhundert entstanden einflussreiche Kaufmannsdynastien und ab dem 17. Jahrhundert entwickelten sich aus Handwerksbetrieben die ersten Manufakturen. So gelangten Angehörige des Bürgertums nicht selten zu einem beachtlichen Wohlstand, der die Vermögensverhältnisse vieler Adliger überstieg.[i]

Gemälde von Leutze: Washington überquert 1776 den halb zugefrorenen Delewarefluss - auf einem Boot in heroischer Pose
Amerika auf dem Weg in die Unabhängigkeit

Das aufstrebende Bürgertum fordert die Demokratie

Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die daraus resultierenden gesellschaftlichen Spannungen immer deutlicher. Das aufstrebende Bürgertum forderte eine Beteiligung an der Macht und Schutz vor absolutistischer Willkür. Die Konflikte entluden sich in zwei Revolutionen – beide mit einschneidenden Folgen für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte. Die Amerikanische Revolution war Folge des Unmuts der Siedler, die in ihrer Kolonie zwar Steuern zahlen mussten, aber nicht im britischen Parlament repräsentiert waren. Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 atmet durch und durch den Geist von Locke und Montesquieu. Freiheit, Gleichheit und Gewaltenteilung wurden in der Verfassung von 1787 verankert. Zwei Jahre später führten in Frankreich langjährige staatliche Misswirtschaft und die Verteidigung absolutistischer Privilegien zu einer weiteren Revolution. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 ist stark von den Ideen Montesquieus und Rousseaus geprägt. In den folgenden Machtkämpfen setzte sich 1793 die Fraktion der Jakobiner durch und errichtete ein Terrorregime, das innerhalb eines Jahres zehntausenden Menschen das Leben kosten sollte. Nach Vorstellungen ihres Führers Robespierre sollte ein Tugendstaat „das Volk durch Vernunft [.] leiten und die Feinde des Volkes durch Terror [.] beherrschen“. Robespierre wurde zum Hohepriester des radikaldemokratischen rousseauschen Kults: Alles ist dem Gemeinwillen unterzuordnen. Wer diesen Willen infrage stellt, ist ein Verräter an der aufgeklärten Gemeinschaft. Der Gemeinwille ist dabei nicht etwa der Wille der Mehrheit, sondern jener, die im Besitz der „Wahrheit“ sind.


Gemälde von Robespierre von 1793 in warmen Brauntönen, er trägt eine gepuderte Perrücke
Ein Radikaldemokrat will die Menschen zu ihrem Glück zwingen: Maximilien Robespierre

Die revolutionären Auswüchse erschreckten nicht nur Adel und Klerus, sondern auch große Teile des liberalen Bürgertums innerhalb und außerhalb Frankreichs. Die wohlhabenden Bürger erkannten, dass auch sie in einer radikalen Demokratie viel zu verlieren hatten. Eines ihrer wichtigsten Ziele wurde es nun, eine „Tyrannei der Mehrheit“ zu verhindern. Infolgedessen entwickelte der Liberalismus ein ausgeprägtes Misstrauen gegen bestimmte Erscheinungen der direkten Demokratie und einen starken Staat.

 

Die Französische Revolution katalysiert den Nationalismus

Mit dem Nationalismus entstand an der Wende zum 19. Jahrhundert eine weitere politische Strömung, auch sie war eine Folge der Französischen Revolution. Das Heilige Römische Reich war am Ende des Dreißigjährigen Krieges in ein Konglomerat aus rund 300 Einzelstaaten zerfallen. In Zentraleuropa und Italien herrschte Kleinstaaterei, ein Flickenteppich von teils abhängigen, teils unabhängigen, oft zerrissenen Territorien, die von einer Vielzahl von Königen, Fürsten, Herzögen, Grafen, Bischöfen und freien Städten regiert wurden. In dieser zwischen Internationalismus und Partikularismus gespaltenen Welt war die Vorstellung einer Nation, die sich – wie Frankreich oder England – als sprachliche, kulturelle und territoriale Einheit begriff, ein völlig neuer Gedanke. In Deutschland und anderen europäischen Ländern war der junge Nationalismus zunächst eng mit dem liberalen Bürgertum verknüpft. Ursprünglich gegen das französische Hegemoniestreben und die Hassfigur Napoleon Bonaparte gerichtet, wandte sich die insbesondere von Studenten getragene nationalliberale Strömung nach den Napoleonischen Kriegen gegen die monarchistischen Bestrebungen, mittels der Restauration das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen zu wollen.

 

Nach der Antike entsteht wieder ein neues Proletariat

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte der rasante technische Fortschritt zunächst in England und mit einigen Jahrzehnten Verzögerung auch im übrigen Nordwesteuropa zu einer raschen Industrialisierung. Aus Manufakturen wurden Fabriken. Gewinner dieser Entwicklung war erneut das liberale Bürgertum. Verlierer waren alle anderen. Der Einfluss von Adel und Kirche schwand, während Maschinen in Landwirtschaft und Handwerk Millionen von Erwerbskräften freisetzten, die auf der Suche nach Arbeit in der expandierenden Industrie in die Städte zogen. Das Überangebot führte zu extrem niedrigen Löhnen, prekären Arbeitsverhältnissen und vielerorts zu einer Massenverelendung. Platons „Nährstand“ war in zwei Klassen mit sehr gegensätzlichen Interessen zerfallen: Einem gebildeten, oftmals wohlhabenden, staatsskeptischen und nationalliberal gesinnten Bürgertum stand ein großes, verarmtes und von politischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossenes Industrieproletariat gegenüber. Während sich das Bürgertum mit der Zeit in eine demokratische, eine wirtschaftsliberale und eine nationale Fraktion spaltete, begann sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Arbeiterschaft zu organisieren – zumeist unter Führung bürgerlicher Intellektueller. Ging es anfangs noch um moderate Forderungen wie Mindestlöhne, radikalisierten sich einzelne Strömungen nun zunehmend und forderten massive staatliche Umverteilung oder gar Enteignung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel.


Eisenwalzwerk - Gemälde von Adolph Menzel 1875
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt sich die Arbeiterschaft zu organisieren

In den komplexer gewordenen Gesellschaften waren neue Interessenkonflikte und Allianzen entstanden: Wirtschaftsliberale sahen Handlungsfreiheit und Besitzstand durch die Forderungen des Proletariats bedroht; der Arbeiterschaft hingegen ging es eher um Gleichheit als um Freiheit; der Nationalismus vergaß seine Ursprünge in der liberalen Demokratiebewegung und verband sich zunehmend mit dem Konservativismus; zu dieser Allianz gesellte sich die in die Defensive geratene einst kosmopolitische Aristokratie, die hierin eine Möglichkeit erkannte, ihren schwindenden Einfluss zu wahren; die katholische Kirche öffnete sich ihrerseits den Nöten der Arbeiterklasse und entwickelte mit der katholischen Soziallehre eine neue Ethik; Liberale und Konservative einte zwar der gemeinsame Glaube an die Ungleichheit der Menschen, doch sie entfremdeten sich über die Frage, ob den Interessen des Individuums oder der Gemeinschaft der Vorrang zukommen soll.

 

Die Ursprünge der politischen Parteien: Liberalismus

Somit hatte auch jede politische Strömung unterschiedliche Erwartungen an den Staat. Für die Demokratiebewegung standen neben den natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechten wie Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz vor allem Partizipationsrechte – also Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen – im Mittelpunkt. Für die Anhänger des Liberalismus zählten neben der Freiheit, nach persönlichem Glück streben zu dürfen, vor allem die Abwehrrechte gegenüber einer allzu mächtigen und neugierigen staatlichen Autorität. Das Ideal war ein „Nachtwächterstaat“, der körperliche Unversehrtheit und Sicherheit der Besitzverhältnisse garantiert und sich ansonsten nicht weiter in die Belange der Bürger einmischt. Die Arbeiterklasse forderte Gleichheitsrechte. Sie erwartete vom Staat Wohlfahrtsleistungen oder gar eine Umkehrung der Besitzverhältnisse durch Kollektivierung der Produktionsmittel.


Portraitgemälde eines jungen schlanken, eleganten Mannes mit dunklen mittellangen Haaren
Alexis de Tocqueville gilt als einer der Begründer der Politikwissenschaften

Jede dieser Positionen verlangten nach einem theoretischen Fundament. Neben den politischen Philosophen meldeten sich hierzu nun auch zunehmend die Vertreter anderer Geisteswissenschaften zu Wort. Zu den prominenten Theoretikern des Liberalismus zählen Wilhelm von Humboldt, Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill, die insbesondere auf die von John Locke, Adam Smith und Montesquieu geschaffenen Fundamente zurückgriffen. In Deutschland machte Humboldt die liberalistische Idee populär. 1792 verfasste er die „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“. Der Mensch, schreibt der 25-Jährige, könne ohne Freiheit seiner wahren Bestimmung nicht nachkommen. Der Staat solle sich auf die Abwehr innerer und äußerer Feinde beschränken und sozialstaatliche Eingriffe tunlichst unterlassen, da sie Eigeninitiative und Selbstständigkeit der Menschen lähmten. Tocqueville (1805-1859) wird oft als Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft angesehen. Der adelige Franzose verbrachte 1831-1832 zehn Monate in den USA, um im Auftrag der französischen Regierung das Rechtsystem zu studieren. In „Über die Demokratie in Amerika“ analysiert Tocqueville die Gründe für die unterschiedlichen Entwicklungen, die die Vereinigten Staaten und Frankreich nach ihren Revolutionen jeweils genommen haben. Tocqueville zeigt sich beeindruckt von dem System der „checks and balances“ der jungen amerikanischen Demokratie, die durch Geschworenengerichte und dezentrale föderative Strukturen die Ideale der Gründungsväter am Leben erhalte. Während sich die Franzosen vor theoretisierenden Intellektuellen verneigten, hörten die Amerikaner auf Praktiker und förderten eine starke Zivilgesellschaft. Der wichtigste Unterschied aber, so Tocqueville, sei, dass die Amerikaner die individuelle Freiheit in den Mittelpunkt ihrer politischen Verfassung gestellt hätten, während die Franzosen der volonté générale und der Gleichheit das Primat gäben: „Der Bewohner der Vereinigten Staaten lernt von Geburt an, dass man sich im Kampf gegen die Mühen und Hemmnisse des Lebens auf sich selber verlassen muss; er schaut auf die Obrigkeit nur mit einem misstrauischen und unruhigen Blick, und er wendet sich an sie nur dann um Beistand, wenn er es ohne sie nicht schafft […].“[ii] Dieser staatskeptische Liberalismus prägt die USA bis heute.


Düsteres Portraitgemälde eines alten, melancholisch blickenden Mannes mit Stirnglatze
John Stuart Mill: einer der wichtigsten Theoretiker des Liberalismus

John Stuart Mill wird oft als der wichtigste Theoretiker des Liberalismus bezeichnet. Anders als für seinen geistigen Übervater Jeremy Bentham, ist Freiheit für Mill nicht Teil des Glücks, sondern der Weg dorthin. 1859 veröffentlichte er „On Liberty“ – „Über die Freiheit“. Darin überträgt Mill die Ideen des Utilitarismus auf Staat und Gesellschaft. Da sie der wichtigste Glücksfaktor des Menschen sei, müsse die Gesellschaft die größtmögliche persönliche Freiheit anstreben, selbst dann, wenn sich das Individuum dadurch selbst schädige. Eine Grenze gibt es für Mill nur da, wo die individuelle Freiheit die Freiheit der anderen einschränkt. Auch Selbstmord ist nicht erlaubt, denn dieser bedeute ja, die eigene Freiheit aufzugeben. Staaten, so führt er weiter aus, die ihre Bürger kleinhalten, könnten selbst nichts Großes vollbringen. Ganz im Sinne seines qualitativen Utilitarismus fordert Mill eine Gewichtung des Stimmrechts in Abhängigkeit vom Bildungsgrad der Wähler. Eines der wenigen Rechte, die er dem Staat zugesteht, ist „unverdientes“ Vermögen, insbesondere Erbschaften, nicht an die Nachkommen, sondern an die Allgemeinheit fallen zu lassen.

 

Anarchie als radikalste Interpretation des Liberalismus

Die radikalste Position hinsichtlich der persönlichen Freiheit nimmt der Anarchismus ein, dessen Wurzeln einerseits im Liberalismus der Aufklärung andererseits im Sozialismus liegen. Als sein Begründer gilt der Franzose Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865). Da jede Form von Herrschaft letztlich Sklaverei bedeute, dürfe kein Mensch über einen anderen Menschen herrschen, wobei die größte Bedrohung für die Freiheit vom Staat ausgehe. In Proudhons Vision leben die Menschen selbstbestimmt in kleinen, lokalen, auf Gegenseitigkeit, Solidarität und Ordnung beruhenden Strukturen.


Portrait von Proudhon im Garten neben seinen spielenden Kindern
Pierre-Joseph Proudhon gilt als Begründer des Anarchismus

Diesem gemäßigten Mutualismus stellt der russische Revolutionär Michail Bakunin (1814-1876) seinen radikalen kollektivistischen Anarchismus gegenüber. In der staatenlosen Gesellschaft soll es kein privates Eigentum an Produktionsmitteln mehr geben – nur so lasse sich die größtmögliche persönliche Freiheit sicherstellen. Bakunins Landsmann Pjotr Kropotkin (1842-1921) unternimmt später in seinem Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ den Versuch, den Anarchismus auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Biologie möchte er zeigen, dass Darwins „Überleben des am besten Angepassten“ durch Kooperation besser zu erreichen sei, als durch einen egoistischen Kampf ums Dasein. Kropotkin liefert damit eine theoretische Rechtfertigung des Anarchismus als evolutionär erfolgreicher und vor allem natürlicher Lebensform.

 

Die Entstehung von Sozialismus und Kommunismus

Karl Marx, der große Theoretiker des Sozialismus und des Kommunismus, teilt die antiautoritären anarchistischen Vorbehalte gegen eine Zentralmacht nicht. Er braucht den Staat, da diesem in der nächsten Phase des vorbestimmten Laufs der Geschichte die Besitzrechte an den Produktionsmitteln zukommen müssen. 1872 kommt es auf dem Haager Kongress der Sozialistischen Internationale zum Machtkampf. Auf Marx‘ Betreiben wird Bakunins anarchistische Fraktion ausgeschlossen; der Sozialismus bleibt damit die dominierende politische Strömung der Arbeiterklasse.


Schwarzweiss-Fotografie von Karl Marx mit imposanten Bart
Jeder kennt ihn...

Marx beschreibt den bisherigen und zwangsläufig auch künftigen Verlauf der Geschichte ausführlich: Nicht Hegels Weltgeist, sondern der Kampf um die Besitzverhältnisse an Produktionsmitteln treibt die Menschheit an und führt sie ihrer finalen Bestimmung zu. Seit der Mensch den unterschiedslosen Naturzustand verlassen hat, gab es zu allen Zeiten eine herrschende und eine unterjochte Klasse. Mit dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht und der erstmaligen Erzeugung eines wirtschaftlichen Überschusses entsteht eine Oberschicht, die sich nicht mehr unmittelbar am Produktionsprozess beteiligt. Diese Entwicklung ist der Ursprung aller Ungleichheit. Die ersten Profiteure sind die Häuptlinge, die die primitiven Stammesgesellschaften regieren. Über die auf Sklavenarbeit beruhende Wirtschaft der Antike führt der Weg der Ungleichheit zur mittelalterlichen Antithese der feudalistischen Ständegesellschaft. Aus deren kleinkapitalistischen Strukturen gehen in der Neuzeit das bourgeoise Großkapital und das Proletariat hervor. Die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft aber muss an ihren Widersprüchen zugrunde gehen. Diese Widersprüche sind insbesondere der Betrug der ausgebeuteten arbeitenden Klasse um den Mehrwert – die Differenz zwischen Lohn und Preis der von ihr geschaffenen Ware – sowie die Entfremdung, die die Arbeiter durch den hochgradig arbeitsteiligen Prozess erfahren. Die Proletarier verlieren nicht nur das natürliche Verhältnis zu ihrer Arbeit und zu den von ihnen hergestellten Produkten, sondern letztlich auch das zu sich selbst. Nach dem unvermeidbaren Zwischenschritt der sozialistischen Diktatur des Proletariats, der Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, wird schließlich eine klassenlose kommunistische Gesellschaft entstehen. In diesem Endstadium der Geschichte nähert sich das Kollektiv wieder dem ursprünglichen anarchistischen Ideal an. Es ist die Rückkehr zu einer natürlichen Gemeinschaft, die keinen Staat mehr benötigt. Die Menschen leben, ihrer eigentlichen Bestimmung entsprechend, in völliger Gleichheit, ohne Arbeitsteilung, Krieg, Kriminalität und Privatbesitz. Technischer Fortschritt und kollektives Eigentum an den Produktionsmitteln ermöglichen es, Überschüsse zu erwirtschaften, so dass alle ihren persönlichen Neigungen nachgehen und sich selbst verwirklichen können.


Mit Demokratiebewegung, Liberalismus, Konservatismus, Nationalismus, Sozialismus und Anarchismus waren Ende des 19. Jahrhunderts alle wesentlichen politischen Strömungen entstanden. Bis heute prägen sie die politische Parteienlandschaft zahlreicher Länder. Seit Aufkommen der „sozialen Frage“ vor fast 200 Jahren, steht die konkrete Ausgestaltung des Zielkonflikts zwischen Freiheit und Gleichheit im Mittelpunkt der Parteiprogramme: Freiheit scheint fast naturgesetzlich Ungleichheit hervorzubringen, Gleichheit fast zwangsläufig Freiheit einzuschränken.[iii]


Nachdem die Gesellschaftstheoretiker seit der Antike allein qualitative Betrachtungen angestellt hatten, wollten sich die Anhänger der von Auguste Comte begründeten Soziologie – ganz im Sinne einer „sozialen Physik“ – den Phänomenen des Zusammenlebens nun auch mit quantitativen Methoden nähern. Ihre statistischen Analysen sollten schon bald zeigen, dass menschlichem Verhalten im Kollektiv vielfältige Einflussgrößen zugrunde liegen. Der Religion kam hierbei, wie wir im nächsten Blog zum Thema Gesellschaft sehen werden, eine ganz besondere Rolle zu…


 

Wer mehr wissen will:

Mill, John Stuart (2017): „Über die Freiheit“, Reclam.

Tocqueville, Alexis de (1959): „Über die Demokratie in Amerika“, Reclam.

Marx, Karl (1979): „Das Kapital“, Dietz. 


 

Anmerkungen:


[i] Dem Augsburger Kaufmann Jakob Fugger etwa war es problemlos möglich, mit seinem Vermögen den Aufstieg von Maximilian I und Karl V zu Kaisern des Heiligen Römischen Reiches zu finanzieren.

[ii] Tocqueville (1959) S. 216 f.

[iii] Die Begriffe Freiheit und Gleichheit haben im Lauf der Zeit ihre Bedeutung verändert. Freiheit war in Antike und Mittelalter ein Privileg weniger – Sklaverei und Leibeigenschaft waren selbstverständlich. Erst während der Aufklärung wurde der Begriff umfassend erweitert. Seit Locke verstehen wir darunter ein unveräußerliches Recht aller, das auch Handlungs- und Meinungsfreiheit umfasst; für Kant ist sie die intellektuelle Befreiung aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Gleichheit bedeutete in der Antike bei Platon und Aristoteles vor allem eine Entlohnung, die sich proportional zur Leistung verhält; im Mittealter kam Gleichheit allein von Gottes Gerechtigkeit. Mit der Aufklärung wurde die Bedeutung in verschiedene Richtungen erweitert: In den Vertragstheorien war Gleichheit neben Freiheit Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Für die Utilitaristen bedeutete sie die konsequente Anwendung des Prinzips des größten Glücks der größten Zahl, im Sozialismus die Umkehr der Besitzverhältnisse.

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