Hooke zeichnet schuppige Monster und entdeckt die Zelle
Robert Hooke, Newtons streitlustigem Zeitgenossen, lag auf einmal eine neue Welt zu Füßen. Das Tor dazu hatte das Mikroskop aufgestoßen, eine geniale Erfindung niederländischer Linsenschleifer. Die ehrwürdige Royal Society hatte den Wissenschaftler beauftragt, die Offenbarungen des neuen Wundergeräts im Wortsinne unter die Lupe zu nehmen. Das optische Instrument verwandelte eine Nadelspitze in einen schroffen Berg und einen winzigen Floh in ein bizarres, schuppiges Monster.
1665 veröffentlichte Hooke das Buch „Micrographia“, eine umfangreiche Sammlung von Zeichnungen der verschiedenen Objekte, die der Autor unter dem Mikroskop beobachtet hatte, samt dazugehörigen Kommentaren. Einer der beschriebenen Gegenstände war ein einfaches Stück Kork. Die kammerartigen Strukturen, die er unter dem Mikroskop sah, erinnerten Hooke an die kleinen Zellen der Mönche. Deshalb nannte er sie auch einfach so: Zellen.
Viele Jahre und zahllose weitere angestrengte Blicke durch das Mikroskop später, erfasste der deutsche Physiologe Theodor Schwann schließlich die Tragweite der Hookeschen Entdeckung: Zellen waren die Grundeinheit allen Lebens! Bald darauf erkannte Rudolf Virchow in Zellstörungen die Ursache sämtlicher Krankheiten und Anfang der 1860er Jahre setzte der Franzose Louis Pasteur die Erkenntnis durch, dass Zellen nur aus anderen lebenden Zellen hervorgehen können. Dies war das Ende der noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von zahlreichen Biologen vertretene, auf Aristoteles zurückgehende Ansicht, dass Leben durch „spontane Urzeugung“ aus toter Materie entstehen könne.
Nach Elementarteilchen, Atomen und Molekülen stellen Zellen eine nächste Aggregations- und Komplexitätsstufe dar. Ihre Größe verhält sich zu Atomen etwa so, wie Atom zu Atomkern: Eine Zelle aus erbsengroßen Atombausteinen, hätte die Ausdehnung eines Fußballstadions. Ihr tatsächlicher Durchmesser liegt bei einigen hundertstel Millimetern – eine Winzigkeit zu klein für das bloße Auge. (Die einzige bekannte einzelne Zelle, die ohne Hilfsmittel für uns sichtbar ist, ist die Eizelle des Vogel Strauß.)
Die Urzelle
Wir haben heute relativ konkrete Vorstellungen davon, wie Universum, Atome, Sterne und Planeten entstanden sind – der Ursprung des Lebens auf unserem Himmelskörper aber bleibt zum großen Teil rätselhaft. Weitgehende wissenschaftliche Übereinstimmung gibt es nur dahingehend, dass alles Leben wahrscheinlich auf einen einzigen Vorfahren zurückgeht, der vor etwa 3,8 Milliarden Jahren im Wasser entstanden sein muss. Langkettige, mit verschiedenen funktionellen Gruppen bestückte Kohlenwasserstoffe begannen damals miteinander zu kooperieren. Sie schufen einen abgeschlossenen Reaktionsraum, in der autokatalytische Prozesse ihre Dynamik entfalten konnten. Diese zunächst rein physikalisch-chemischen Vorgänge waren der Beginn der biologischen Evolution. Wie sich die Urzeugung, der Sprung von toter Materie zum Leben, genau vollzog, wie das Ganze zu mehr als der Summe seiner Teile wurde, bleibt ein Geheimnis der Urozeane. Heute fügen sich die zahllosen Nachfahren jenes ersten Keims zu Algenkolonien, Krokussen, Regenwürmern, Haifischen, Grottenolmen, Kranichen, Walen, Kühen oder menschlichem Bewusstsein zusammen.
Die Zelle als Chemiefabrik: Ein Mikrokosmos
Jede Zelle ist ein Universum für sich, ein Mikrokosmos, in dem ohne Unterlass Schwerstarbeit verrichtet wird. Die Grenzen dieses Kosmos zieht eine Membran, ein aus Phospholipiden bestehendes Wunderwerk der Biochemie, dem schwache Bindungskräfte eine einmalige Kombination aus Stabilität und Flexibilität verleihen. Wir können uns diese Membran wie eine doppelte Phalanx aus Streichhölzern vorstellen, bei der die Zündköpfe jeweils nach außen weisen. Innerhalb und außerhalb der Zelle werden die Phosphor-Enden vom Wasser angezogen, während die wasserscheuen Fettsäureschwänze nach innen gerichtet sind. In die Doppelmembran sind zahlreiche Proteinkomplexe eingebettet, die die Zellhaut an manchen Stellen tunnelartig durchbohren. Sie machen die Zelle zu einem offenen physikalischen System, das mit seiner Umwelt Wasser-, Baustoff-, Energie- und Nachrichtenmoleküle austauscht.
Das Zellinnere ist mit Cytoplasma ausgefüllt, einem glibberigen Cocktail aus Wasser, Proteinfäden, Zuckern, organischen Säuren und anorganischen Bausteinen. Darin eingebettet finden sich die Organellen, komplexe Molekülverbände, deren kryptische Namen uns vielleicht noch aus dem Biologieunterricht in Erinnerung sind. Organellen machen die Zelle zu einer Chemiefabrik en miniature: Sie beschaffen und lagern Rohstoffe, stellen Halb- und Fertigfabrikate her, verteilen sie mithilfe eines ausgeklügelten Logistiksystems, betreiben Kraftwerke für die Energieversorgung und kümmern sich um Instandhaltung und ein gewissenhaftes Recycling. All das wird von einer effizienten Werkleitung gesteuert, die dafür sorgt, dass die Einheiten pausenlos, sieben Tage in der Woche mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks zusammenspielen.
Die Nomenklatur der Zelltypen
Es gibt zwei Grundtypen dieser Chemiefabriken: Prokaryoten sind einfach gestrickte Zellen, vergleichsweise primitive Gebilde mit niedrigen Sicherheits- und Umweltauflagen, deren Organelle frei und ungeschützt im Cytoplasma schwimmen. Prokaryoten sind fast immer nur einzellig und werden in die beiden biologischen Domänen der Bakterien und Archaeen unterteilt. (Dass es Archaeen gibt, wissen wir übrigens erst seit Ende der 1970er Jahre. Obwohl sie sich äußerlich kaum von Bakterien unterscheiden, stellen sie aufgrund eines unterschiedlichen Aufbaus ihrer Ribonukleinsäurensequenz ein eigenständiges Bauprinzip des Lebens dar, das besonders gut mit extremen Bedingungen wie Wassertemperaturen um die 100° C zurechtkommt.)
Der zweite Typus, die Eukaryoten, bilden eine eigene, dritte Domäne. Eukaryoten sind fast immer mehrzellig und teilen sich in die drei großen Lebensformen der Pflanzen, Pilze und Tiere. Bei ihnen sind Zellkern und die meisten Organellen von einer eigenen Membran umgeben. Dadurch entstehen getrennte Reaktionseinheiten, in denen verschiedene Stoffwechselprozesse ohne das Risiko von Chemieunfällen gleichzeitig ablaufen können.
Die Parade der Organelle
Dreh- und Angelpunkt aller Abläufe in Eukaryoten ist der Zellkern. Er ist die Kommandozentrale und zugleich ein gigantisches Archiv für Proteinrezepte. Grundbestandteil all dieser Rezepte sind Enzyme, Protein-basierte Biokatalysatoren, die es erlauben, bei niedrigen Betriebstemperaturen Reaktionen schneller ablaufen zu lassen.
Die Ribosomen sind die Produktionseinheiten, die die Rezeptaufträge abarbeiten. Sie sitzen außerhalb des Zellkerns auf einem Organell mit der merkwürdigen Bezeichnung „Endoplasmatisches Retikulum“ – „in Plasma eingebettetes kleines Netz“. (Nennen wir es praktischerweise ER.) Das ER ist ein verflochtenes Kanalsystem, das die von den Ribosomen hergestellten Proteine mithilfe von Vesikeln, kleinen, kugeligen Transporteinheiten, an ihren Bestimmungsort bringt.
„Dreck auf der Linse“
Die meiste Fracht wird vom Golgi-Apparat in Empfang genommen. Dieses Organell ist nach seinem etwas unglücklichen Entdecker benannt, dem italienischen Arzt Camillo Golgi, der es 1898 aufgespürt hatte. (Seine Beobachtung wurde von Zeitgenossen als „Dreck auf der Mikroskop-Linse“ abgetan.)
Der Golgi-Apparat ist eine Spezialanlage für Hightech-Fertigprodukte. Die vom ER gelieferten Vorstufen werden durch ihn zu komplexen Eiweißverbindungen aufgebaut. In Pflanzen entstehen hier auch die Mehrfachzucker, aus denen die Zellwände errichtet werden. Des Weiteren ist der Golgi-Apparat Teil eines raffinierten Abfall-Recycling-Systems: Er liefert die Verdauungsenzyme, mit deren Hilfe verbrauchte Organellen in einfache, wiederverwendbare Monomere zerlegt werden. Die fertigen Proteine werden schließlich an einer Verladerampe mit chemisch codierten Navigationsanweisungen versehen und von Transportvesikeln zu ihrer Destination gebracht.
Die Betriebsamkeit einer Zelle als hektisch zu bezeichnen, wäre eine ziemliche Untertreibung: Ohne Unterlass werden Abermilliarden von Molekülen transportiert und mit einer unfassbaren Geschwindigkeit auf- um- und abgebaut. Die hierfür nötige Energie liefern die Zell-Kraftwerke, die Mitochondrien. Genau genommen handelt es sich um Kohlekraftwerke, denn hier werden Kohlehydrate verbrannt. Den Zucker-Brennstoff erzeugt ein weiteres Organell, die Chloroplasten, die sich allerdings nur in Pflanzen und bestimmten Bakterien finden. Sie haben die wundersame Fähigkeit, Sonnenenergie in den chemischen Bindungen bestimmter Kohlenstoffmoleküle speichern zu können.
Jedes einzelne der unzähligen Moleküle, aus denen eine Zelle besteht, ist tot; durch ihr Zusammenspiel aber erwachen sie zu etwas, das unvorstellbar viel mehr ist als die Summe seiner Teile – ein Wunder an Synergie, das sich jeder mechanistischen Betrachtung entzieht. Nicht weniger wundersam ist das Zusammenspiel der Zellen untereinander. Kein einzelner Eukaryot wäre allein überlebensfähig. Billionen und Billiarden von ihnen aber bilden jene Arbeitsgemeinschaften, die wir als Pflanzen, Pilze oder Tiere bezeichnen. Sie formen Gewebe, aus denen Wurzeln, Stängel, Blätter oder komplexe Organe wie Tracheen, Chitinpanzer, Herz, Leber, Haut, Knochen oder Gehirn entstehen. Die einzelnen Organe verbinden sich zu Systemen – Blutkreislauf, Verdauungsapparat, Harn- oder Nervensystem. Der Verbund aller Organsysteme untereinander bildet schließlich einen Organismus. Die Zahl der Zellen, die zusammenarbeiten, um etwa einen Menschen entstehen zu lassen, wird auf zehn Millionen Milliarden geschätzt.
Betrachten wir solche komplexe Organismen, drängen sich drei grundlegende Fragen auf: Wie lassen sich diese gigantischen Systeme mit Energie versorgen? Wie werden sie koordiniert? Und vor allem: Wie konnten sie überhaupt entstehen? Diesen drei Fragen werden wir in den kommenden Blogs zum Thema Biologie nachgehen.
Wer mehr wissen will:
Probst, Wilfried / Schuchardt, Petra (Hrsg.): (2011): „Biologie“, Duden Schulbuchverlag
Bill Bryson (2004): Eine kurze Geschichte von fast allem, Goldmann – Kapitel 24
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