Wo befindet sich unsere Seele?
Es gibt bis heute keine allgemein anerkannte Theorie, die die Dimensionen der menschlichen Seele umfassend beschreibt. Den Kern eines aktuellen neurobiologisch fundierten Modells hat der Hirnforscher Gerhard Roth skizziert.[i] Demnach wird unsere Persönlichkeit zu wesentlichen Teilen durch die mittleren Schichten unseres Gehirns bestimmt, einem anatomisch nicht exakt definierten Bereich, der als limbisches System bezeichnet wird. Diese Schichten sind, evolutionsgeschichtlich gesehen, also weder besonders neu, wie der Neokortex, noch besonders alt, wie unser Reptiliengehirn.

Das Modell der menschlichen Seele von Gerhard Roth
Die Funktionen der untersten Ebene dieses Systems sind hauptsächlich genetisch oder durch vorgeburtliche Einflüsse determiniert.[ii] Hier ist unser „Temperament“ verankert, das vegetativ-affektive Verhalten, das in grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen wie Selbstvertrauen, Kreativität, Offenheit, Zuverlässigkeit oder Risikoneigung zum Ausdruck kommt. Die Arbeitsweise dieses Gehirnteils ist nach der Geburt praktisch nicht mehr zu beeinflussen. Im mittleren Bereich des limbischen Systems findet sich das „Selbst“, die Ergebnisse unserer kindlichen Prägung. Es sind unbewusste Anteile von uns, die aufgrund von Erziehung oder Erfahrung unsere Emotionen konditionieren. Untere und mittlere Ebene des limbischen Systems machen zusammen den Kern unserer Persönlichkeit aus. In der oberen limbischen Ebene ist das „Individuell-Soziale Ich“ angesiedelt. Hier sitzt jener Anteil, den wir durch sozial-emotionale Erfahrungen mit anderen insbesondere in der Jugend erlernt haben: Anerkennung, Freundschaft und Moral und somit die wesentlichen Handlungsmuster und Regeln des Zusammenlebens. Dieser Teil von uns ist durch neue soziale Erfahrungen veränderbar und bestimmt zusammen mit den beiden unteren Ebenen unser Sozialverhalten.

Das „Kognitiv-Kommunikative Ich“ als vierte und letzte Dimension unserer Persönlichkeit, befindet sich in der Großhirnrinde. Dieser Beitrag entsteht zuletzt und bleibt ein ganzes Leben lang entwicklungsfähig und formbar. Aus ihm entspringt unsere Ratio, unser Verstand: zweckorientiertes, planvolles Denken und Handeln, systematische Problemlösung, Welterklärung und sprachliche Kommunikation, kurz, unser freier Wille.
Haben wir einen freien Willen?
Genau dieser freie Wille wurde 1979 infrage gestellt. Der amerikanische Physiologe Benjamin Libet bat in seinem bekanntesten Experiment seine Probanden den Augenblick zu signalisieren, in dem sie bewusst die Entscheidung fällten, die Hand zu bewegen.

Libet stellte fest, dass bereits rund eine halbe Sekunde vor dem bewussten Entschluss ein bestimmtes Aktionspotential messbar war, das er als Bereitschaftspotential bezeichnete. Offenbar wurde das Handeln durch das limbische System angebahnt, bevor es ins Bewusstsein drang. Daraus schlossen zahlreiche Wissenschaftler, dass das „Ich“ lediglich die Illusion hatte der Initiator zu sein und die Entscheidung zu diesem Zeitpunkt bereits unbewusst gefallen war. Libet selbst misstraute dieser Interpretation. Er stellte die These auf, dass der Wille nach der unbewussten Initiierung der Aktion während eines Zeitfensters von etwa ein bis zwei Zehntelsekunden ein bewusstes Veto einlegen kann, mit dem sich das Bereitschaftspotential überstimmen lässt. Eine Reihe von Experimenten, die in den folgenden Jahren hierzu durchgeführt wurden, konnten Libets Veto-These im Wesentlichen bestätigen.[iii] Heute geht die Mehrheit der Neurowissenschaftler davon aus, dass wir uns grundsätzlich sehr wohl bewusst und frei gegen unsere natürlichen Eingebungen entscheiden können.
Die Determinanten menschlichen Handelns bleiben dennoch überaus komplex. Wir reagieren auf Wahrnehmungen mit Gefühlen und überprüfen diese dahingehend, ob sie mit unseren Erfahrungen, Überzeugungen, moralischen Vorstellungen, Wünschen und Plänen vereinbar sind. Genetische und epigenetische Prädispositionen beeinflussen uns bei diesem Prozess genauso wie Kindheitserfahrungen, Erziehung, soziale Prägung und Kultur. Aber auch ein Text, den wir unmittelbar vor einer Entscheidung gelesen haben oder die Farbe des Zimmers, in dem wir uns gerade befinden, kann unser Verhalten mitbestimmen. Unser freier Wille ist nur ein Teil von uns und es gibt Vieles, was ihn vom geraden Weg abbringen kann. Auch wenn wir davon überzeugt sind, eine Entscheidung „selbst“ und „bewusst“ getroffen zu haben, liegen die tatsächlichen Motive oftmals im Verborgenen. Die Erklärungen, die wir uns im Nachhinein gerne zurechtlegen, müssen nicht unsere wahren Gründe sein.
Was sind unsere Bedürfnisse?

Die Psychologie geht davon aus, dass alle Menschen ungeachtet ihrer individuellen Unterschiede gemeinsame Grundbedürfnisse haben. Das hierarchische Modell des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow besagt, dass ein jeweils grundlegenderes Bedürfnis zuerst erfüllt sein muss, bevor wir uns dem nächsthöherstehenden Bedürfnis zuwenden. Zuunterst in dieser Bedürfnispyramide stehen elementare physiologische Notwendigkeiten wie Nahrung und Schlaf aber auch Fortpflanzung. Darüber steht das Bedürfnis nach Sicherheit, über dem wiederum der Wunsch nach sozialer Integration in menschliche Gemeinschaften steht. Ist dieses Bedürfnis gesichert, strebt der Mensch nach Anerkennung und schließlich nach Selbstverwirklichung.

Ein anderes bekanntes Modell, das der deutsche Psychotherapeut Klaus Grawe entwickelt hat, geht davon aus, dass Menschen allgemein vier Grundbedürfnisse haben: Das Bindungsbedürfnis ist der Wunsch nach einigen wenigen engen, festen Bezugspersonen. Dem steht das Bedürfnis nach Kontrolle über das eigene Leben gegenüber. Hier ist bereits ein möglicher Konflikt mit dem elementaren Bindungswunsch angelegt. Das dritte Bedürfnis ist es, den eigenen Selbstwert zu erhöhen und zu schützen, wir wollen gewissermaßen mit uns selbst im Reinen sein. Das vierte Motiv ist es angenehme, lustvolle Situationen zu suchen und entsprechend unangenehme Situationen zu vermeiden. Grawes „Konsistenztheorie“ macht deutlich, dass der Mensch sich in einem Spannungsfeld befindet, in dem er einerseits als soziales Wesen in die Gemeinschaft eingebunden sein will, sich andererseits als Individuum aber auch gegen diese Gemeinschaft abgrenzen möchte.[iv]
Wer mehr wissen will:
Roth, Gerhard, Strüber, Nicole (2018) „Wie das Gehirn die Seele macht“, Klett-Cotta.
Müller-Jung, Joachim (2017): “Die Festplatte für die Ewigkeit“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online vom 03.03.2017.
Bildnachweise:
Anmerkungen:
[i] Vgl. Roth / Strüber (2018) S. 441 ff.
[ii] Dazu gehört auch, dass sich epigenetische Prozesse der Mutter, die etwa durch Stresssituationen ausgelöst werden können, auf die Gehirnstruktur des noch ungeborenen Kindes auswirken. Die so erworbenen Persönlichkeitsmerkmale sind zwar angeboren, aber nicht ererbt.
[iii] Vgl. Müller-Jung (2016).
[iv] Das lateinische Wort Individuum bedeutet so viel wie „das, was nicht weiter geteilt werden kann“.
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