Das Fenster zur Welt
Unter den zahlreichen eukaryotischen Zelltypen sind die Neuronen die wohl merkwürdigsten Vertreter. Ohne diese bizarren Gebilde wüssten wir nicht, dass es uns und die Welt gibt. Nervenzellen lassen uns träumen, Intrigen schmieden, Sonette dichten, ewige Treue schwören, imaginäre Zahlen erfinden, zum Mond fliegen oder an höhere Wesen glauben. Aus ihrem Zusammenspiel entsteht ein komplexes Informationsverarbeitungssystem, das mittels eines permanenten elektrochemischen Gewitters sicherstellt, dass wir mit uns selbst und der Welt um uns herum zurechtkommen. Pausenlos überprüft es externe und interne Signale hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Wohlergehen des Organismus, indem es Änderungen des Energieniveaus der Umgebung und des eigenen Körpers in Empfindungen umwandelt, die wir als Farben, Geräusche, Gerüche, Schmerzen, Hitze, Hunger, Glücksgefühle oder Assoziationen wahrnehmen. Kurz: Neuronen lassen die Welt in unserem Kopf entstehen.
Das Konzert, das das Zusammenspiel der Neuronen veranstaltet, verstehen wir trotz großer Fortschritte in den letzten Jahren erst ansatzweise. Die Neurowissenschaften sind heute das vielleicht bedeutsamste Grenzgebiet naturwissenschaftlicher Forschung. Wir stehen an der Schwelle zum Zeitalter der Materialisierung des Geistes, ein Thema, dem wir in der Blog-Kategorie „Bewusstsein“ nachgehen. werden. An dieser Stelle beschränken wir uns daher zunächst auf eine rein biologisch-mechanische Betrachtung des Nervensystems.
Eine sehr merkwürdige Zelle
Der erste, der sich intensiv mit der Anatomie der Neuronen auseinandersetzte, war Camillo Golgi – wir sind ihm bereits begegnet. Seine Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Neurologie sollten 1906 immerhin mit dem Nobelpreis für Medizin belohnt werden. Das ungewöhnliche Erscheinungsbild des Neurons verrät uns bereits einiges über seine Arbeitsweise. Es besteht aus einem Zellkörper, von dem filigrane Verästelungen, die Dendriten, antennenartig verzweigen. An einer Stelle entspringt dem Körper ein besonders langer und kräftiger Strang, das Axon. In manchen Fällen erreicht es die für Zellen unglaubliche Länge von über einem Meter. Das Axon ist im Grunde ein elektrisches Kabel. Wie eine Telefonleitung ist es in der Lage, mittels Ladungsträgern Informationen zu befördern. Bei den besonders dicht verkabelten Wirbeltieren ist das Axon von Schwann-Zellen umgeben. Sie produzieren die lipidhaltige Membran Myelin, die den Strang isoliert und so Kurzschlüsse verhindert. Die Isolierung ist nicht durchgängig, sie wird von kleinen Lücken, den Ranvier-Schnürringen, durchbrochen. An ihren Enden sind die Axone über besondere Schnittstellen, den Synapsen, mit den Dendriten anderer Neuronen verbunden. So entsteht ein Netzwerk von Signalbahnen, bei dem sich Axon-Gruppen zu Nerven und Nervensträngen verdichten, die den ganzen Organismus durchziehen.
Ein Beispiel: Wie reagieren wir auf einen Umweltreiz?
Wir können den neuronalen Informationsverarbeitungsprozess beispielhaft anhand des Lidschlussreflexes nachvollziehen. Dieser simple Schutzmechanismus wird ausgelöst, wenn hochfrequente elektromagnetische Wellen auf die Netzhaut des Auges treffen. Die Netzhaut ist ein mit lichtempfindlichen Sensoren bestücktes Empfangsgerät, das mit Stäbchen-Zellen auf den Reiz „hell-dunkel“ und mit Zäpfchen-Zellen auf elektromagnetische Wellen unterschiedlicher Länge reagiert. Von der Netzhaut wird der Lichtimpuls an das angeschlossene Neuron übertragen. Damit daraus auch ein Nervenimpuls entsteht, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss am Eingang des Axons eine elektrische Mindestspannung, die so genannte Reizschwelle überschritten werden. Dieser Filtermechanismus stellt sicher, dass schwache Signale ausgeblendet werden und das System nicht mit irrelevanten Informationen überlasten. Zweitens muss das Axon über ein Spannungsgefälle verfügen, das so genannte Ruhepotential. Zum Aufbau dieses Potentials pumpt die Zelle mithilfe von ATP positiv geladene Kalium-Ionen durch spezielle Membrankanäle in den extrazellulären Raum, sodass nun die Ladungen innerhalb und außerhalb der Zelle ungleich verteilt sind.
Sind beide Voraussetzungen gegeben, zündet der Nervenimpuls und brennt ein wahres Feuerwerk ab: Durch spezielle Membran-Kanäle strömen positiv geladene Natrium-Ionen in das Axon; die Zelle reagiert wenige Millisekunden später auf diesen Ladungsüberschuss, indem sie durch ihre Kanäle weitere positiv geladene Kalium-Ionen nach außen schleust, bis das Spannungsgefälle abgebaut und das ursprüngliche Ruhepotential wiederhergestellt ist. Das wiederum ist das Signal für den benachbarten Ionen-Kanal, sich zu öffnen, so dass sich der Impuls wie ein Domino-Effekt in Richtung des Axon-Endes fortpflanzt.[i] Da bei Wirbeltieren an den isolierten Abschnitten kein Ionentausch stattfinden kann, springt der Impuls direkt zum nächstgelegenen Ranvier-Schnürring. Mit diesem Trick erreicht die Reizleitung eine Geschwindigkeit von über 400 Stundenkilometern.
Am Axon-Ende angekommen, bewirkt der Nervenimpuls, dass – diesmal mithilfe von Calcium-Ionen – chemische Botenstoffe ausgeschüttet werden. Die Neurotransmitter überbrücken den synaptischen Spalt zwischen dem Axon-Ende und dem Dendriten des Nachbarneurons und veranlassen dieses, seinerseits die Natrium- und Kalium-Schleusen zu öffnen. Damit ist der Reiz auf die nächste Nervenzelle übertragen. Im Falle des Lidschlussreflexes gelangt so der Impuls über eine Breitbandverbindung (den kurzen, kräftigen Sehnerv) von der Netzhaut ins Gehirn.
Wie entsteht die Wirklichkeit?
Das Gehirn bildet zusammen mit dem Rückenmark das zentrale Nervensystem. Hier werden die Informationen verarbeitet, die die peripheren Sensoren anliefern. Im Grunde sind diese beiden Verarbeitungsinstanzen nichts anderes als große Nervenknoten, die von Hilfszellen geschützt und stabilisiert werden. Zugleich sind Gehirne aber auch das größte uns bekannte Wunder, das Atome zu vollbringen vermögen, die komplexesten Strukturen, die wir im Universum kennen. Sie erzeugen das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen (als Wirklichkeit möchte ich hier das bezeichnen, was auf uns wirkt – das ist etwas anderes als die Realität, denn es gibt Dinge, die real sind, aber nicht auf uns wirken.)
Unsere Nerven steuern unsere Bewegungen
Um die vergleichsweise einfache Mechanik des Lidschlussreflexes zu verstehen, reicht es jedoch, wenn wir uns zunächst das Gehirn als ein System verschalteter Stromkreise vorstellen, das wie ein Computer Informationen empfängt, sie verarbeitet und anschließend ein Ergebnis ausgibt: Tief im Hirnstamm kommt ein simpler Algorithmus zu der Einschätzung, dass die Intensität des empfangenen Sonnenlichts die Netzhaut schädigen könnte. Innerhalb von Millisekunden veranlasst das Programm eine Reaktion: Eine vom Gehirn wegführende Nervenbahn beginnt zu feuern und jagt nun ihrerseits Impulse (die Neurologen sprechen von Aktionspotentialen) in Richtung Auge. Dort angekommen, aktivieren die Neuronen Muskelzellen, die am Schädelknochen haften. Die Fasern der Muskelzellen bestehen hauptsächlich aus den Proteinkomplexen Myosin und Aktin. Der eingehende Nervenimpuls veranlasst das Myosin, sich wie eine Häkelnadel in das Aktinmolekül einzuhaken und es unter ATP-Verbrauch zusammenzuziehen. Mit einem weiteren ATP-Schub löst sich das Myosin danach wieder vom Aktin. Durch viele, kurz hintereinander eintreffende Aktionspotentiale summieren sich kurze Zuckungen zu einer dauerhaften Kontraktion aller Muskelfasern. Nach diesem Prinzip wandeln Tiere chemische in kinetische Energie. Damit lassen sich Augenlieder verschließen, Nähnadeln einfädeln oder auch der Körper eines Elefanten in Bewegung versetzen. Muskeln sind Marionetten, die tun, was die Nervenfäden ihnen gebieten.
Hormone koordinieren ebenfalls – aber anders als die Nerven
Daneben gibt es noch einen weiteren Mechanismus, mit dem das Nervensystem den Körper koordiniert. Hormone reisen nicht wie Aktionspotentiale über die schnelle Nervenbahn, sondern über die langsame Blutbahn. So langsam sie sind, so nachhaltig ist ihre Wirkung: Als Botenstoffe sind sie chemisch eng verwandt mit den Neurotransmittern der Axon-Enden oder, wie im Fall von Dopamin und Insulin, sogar mit ihnen identisch. Am Ziel ihrer Reise docken die Nachrichten-Proteine an speziellen Rezeptoren ihrer Empfängerzellen an. Wie ein Schlüssel, der eine Tür öffnet, lösen die Hormone damit die unterschiedlichsten Prozesse aus: Somatropin steuert das Wachstum, Melatonin den Wach-Schlaf-Rhythmus, Insulin den Blutzuckerspiegel, Testosteron und Östrogen die Entwicklung der männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmale.
Das elektrochemische Zusammenspiel von Dendriten, Axonen, Synapsen, Muskeln und Hormonen, mit dem sich komplexe Lebewesen koordinieren, ist nicht weniger beeindruckend und verwirrend als die verschlungenen Pfade des Stoffwechsels. Erneut drängt sich die Frage auf, wie einfache Zellen ein derlei kompliziertes Zusammenspiel entwickeln konnten. Der Mensch, der als erster versuchte, diese Frage zu beantworten, hat mit seiner Theorie die Welt mehr erschüttert als irgendein anderer Naturwissenschaftler vor oder nach ihm.
Anmerkungen:
[i] Im Anschluss tauschen spezielle Pumpen die positiven Natrium- und Kalium-Ionen gegeneinander aus, so dass die ursprüngliche Anordnung der Elemente wiederhergestellt ist.
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