Aggression und Altruismus: Überlebensstrategien im Tierreich
- Jens Bott
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Auf den Hund gekommen
Iwan Pawlows Interesse galt eigentlich dem Verdauungsprozess – seine Erkenntnisse auf diesem Gebiet brachten ihm 1904 immerhin den Nobelpreis ein. Einer der zahlreichen Versuche, die er in diesem Zusammenhang unternahm, sollte die Neugier des russischen Arztes allerdings von nun an in eine ganz andere Richtung lenken. Es war eines jener Experimente, die Wissenschaftsgeschichte geschrieben und Einzug in unser kollektives Bewusstsein gehalten haben: die Entdeckung des Pawlowschen Reflexes.
Der Speichelfluss, der bei den Versuchshunden einsetzte, sobald Futter zu riechen war, hatte Pawlow ins Grübeln gebracht. Er ersann eine Versuchsanordnung, bei der der Fütterung stets das Klingeln einer Glocke vorausging. Nach einer Weile zeigte sich, dass der Glockenton den Speichelfluss auch dann anregte, wenn es hinterher kein Futter gab. Es handelte sich also um einen Reflex, der nicht angeboren, sondern erlernt war.

Pawlow bezeichnete diese assoziativ erworbene Verhaltensänderung als Konditionierung.
Vor Pawlow hatte sich niemand aus wissenschaftlicher Sicht für das Verhalten von Tieren interessiert. Seine Hundeexperimente begründeten eine neue biologische Disziplin. Schon bald sollten sich die Verhaltensforscher in zwei verfeindete Lager spalten. Die amerikanische Schule des „Behaviorismus“, begründet durch die Psychologen Edward Lee Thorndike, John Broadus Watson und Burrhus Frederic Skinner, beriefen sich dabei direkt auf Pawlows Erkenntnisse. Nach ihrer Überzeugung ließ sich Verhalten stets auf ein rein durch äußere Faktoren gesteuertes mechanistisches Reiz-Reaktions-Schema zurückführen. Verhalten war gewissermaßen das Ergebnis einer mathematischen Funktion: Kannte man die Umweltstimuli und ihre Verarbeitungsregeln, kannte man auch die zu erwartende Reaktion.
Dieser Sichtweise standen die Ethologen gegenüber, die Vertreter der europäischen Schule der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung, deren Pioniere, Oskar Heinroth, Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und Irenäus Eibl-Eibesfeldt, allesamt Zoologen waren. Umweltreize spielten für sie eine untergeordnete Rolle. Verhalten war in erster Linie eine Folge vererbter „Instinkte“.
Heute wissen wir, dass tierisches Verhalten nur selten solch einfachen Erklärungsmustern folgt. Dennoch haben die beiden historischen Schulen wichtige Grundlagenforschung geleistet und in zahllosen Studien und Feldversuchen einen umfassenden Katalog von Verhaltensmustern erstellt. Betrachten wir kurz ihre wichtigsten Erkenntnisse.[i]
Einfache Verhaltensprogramme
Reflexe sind fest verdrahtete, vollautomatische Programme, sozusagen ein mit Geburt ausgeliefertes kleines Betriebssystem, das sich nicht abschalten lässt. Dazu gehören etwa Speichelfluss- und Lidschlussreflex, das spontane Klammern Neugeborener oder die Schreckreaktion, bei der wir unsere Muskeln unwillkürlich anspannen. Reflexe sind nötig, weil die Welt ein gefährlicher Ort ist. Sie dienen der Gefahrenabwehr und müssen daher vor allem schnell sein. Wenn wir uns etwa die Hand verbrennen, kommt die Reaktion nicht aus dem Gehirn, sondern direkt aus dem Rückenmark – die Reizleitung spart so wertvolle Sekundenbruchteile.
Verhaltensform | Ursprung | Beispiel |
Ererbte Reflexe | Passiv-angeboren | Lidschlussreflex |
Konditionierte Reflexe | Passiv-erlernt | Pawlowscher Hund |
Prägung | Passiv-erlernt | Gänseküken |
Gewöhnung | Passiv-erlernt | Jagdhunde |
Nachahmung | Passiv-erlernt | Frühkindliche Imitation |
Kognitives Lernen | Aktiv-erlernt | Planvoller Einsatz von Hilfsmitteln |
Grundlegende Verhaltensformen
Eine der wichtigsten evolutionären Strategien, um Umweltgefahren zu begegnen ist das Gedächtnis; es ist die grundlegende Voraussetzung für das Lernen. Während ererbte Reflexe genetisch fixiertes Wissen darstellen, das durch einen quälend langsamen, zufälligen Prozess im Laufe von Jahrmillionen als nützlich selektiert wurde, vollzieht sich neuronales Lernen innerhalb von Stunden, Minuten und Sekunden. Diese Fähigkeit ist keineswegs nur „höheren“ Tieren vorbehalten: Weil sie sich erinnern kann, wird auch eine gemeine Gartenschnecke eine Pflanze, die ihr einmal schlecht bekommen ist, kein zweites Mal verspeisen.
Die klassische Verhaltensforschung beschreibt mit Prägung, Gewöhnung und Nachahmung eine Reihe einfacher Lernprozesse, die allesamt auf groben Heuristiken basieren. Die Prägung wurde in den 1930er Jahren erstmals von Konrad Lorenz anhand von Graugänsen charakterisiert: Während eines kurzen Zeitfensters identifizieren die frisch geschlüpften Küken jedes in der Nähe befindliche, sich bewegende Objekt als ihre Mutter und folgen ihm von nun an bedingungslos nach – auch wenn es sich dabei um einen Verhaltensforscher oder einen Fußball handelt. Die Gewöhnung soll sicherstellen, dass das knappe Gut Aufmerksamkeit nicht wahllos verschenkt, sondern nur wirklich wichtigen Dingen gewidmet wird. Deshalb nehmen wir die Kleidung, die wir auf der Haut tragen, nicht bewusst wahr und deshalb erschrecken erfahrene Jagdhunde nicht mehr bei jedem Schuss. Die Nervenbahnen werden entlastet, da die Wahrnehmung sich häufig wiederholender (und damit tendenziell ungefährlicher) Reize unterdrückt wird. Nachahmung schließlich basiert auf der Heuristik, dass es für junge Tiere meist sinnvoll ist, das Verhalten älterer Verwandter zu imitieren – immerhin haben diese mit ihren Verhaltensweisen ja bisher überlebt. Werden Imitationsmuster dauerhaft von einer Generation auf die nächste übertragen, sprechen Verhaltensforscher von einer „Tradition“.[ii]
Reflexe, Prägung, Gewöhnung und Imitation sind allesamt sehr einfache Verhaltensprogramme, denen nur bruchstückhafte Informationen und einfache Kriterien zugrunde liegen. In der Evolution haben sich diese Programme grundsätzlich bewährt; doch sie können Verhalten auch in die falsche Richtung lenken, etwa, wenn Gänseküken einem Fußball nachlaufen oder wenn uns ein gebogenes Stück Holz auf dem Waldboden zusammenzucken lässt, weil es auf den ersten Blick einer Schlange ähnelt. Evolutionäre Verhaltens-Heuristiken verfahren nach dem Motto: lieber hundertmal falsch als einmal zu spät.
Der erstaunliche Sultan
Tiere können aber auch noch nach einem ganz anderen Prinzip zu lernen. Diese Entdeckung machte der Psychologe und Primatenforscher Wolfgang Köhler während des Ersten Weltkriegs auf Teneriffa. Als Leiter einer von der preußischen Akademie der Wissenschaften unterhaltenen Affenstation beobachtete Köhler, wie eines seiner Versuchstiere, ein besonders aufgeweckter Schimpanse namens Sultan, Kisten aufeinanderstapelte und sich so Zugang zu ansonsten unerreichbarem Futter verschaffte. In einem zweiten Versuch standen ihm dann nur Rohrstücke mit verschiedenen Durchmessern zur Verfügung. Der Schimpanse schob sie nach kurzem Überlegen ineinander und konnte sich so das Futter angeln. Sultan hatte gezeigt, dass er fähig war das von ihm entdeckte Prinzip auch auf andere Werkzeuge zu übertragen. In seiner 1917 veröffentlichten Arbeit „Intelligenzprüfung an Anthropoiden“ beschrieb Köhler erstmals die Fähigkeit von Menschenaffen, Informationen umzugestalten, Ursache-Wirkungsketten zu erkennen und durch abstraktes Denken auf einen ähnlichen Sachverhalt zu transferieren. Dass auch Tiere hierzu in der Lage sind, war eine Sensation – ein weiteres vermeintliches Alleinstellungsmerkmal des Menschen war demontiert.

Seine Entdeckung machte Köhler zum Mitbegründer des Kognitivismus. Der evolutionäre Vorteil des kognitiven Lernens ist offensichtlich: Einsichten müssen nicht – wie bei der Gartenschnecke – durch Versuch und Irrtum erworben werden, vielmehr lassen sich die mit Fehlgriffen verbundenen Risiken und Umwege von vornherein vermeiden. Neben Menschen und Menschenaffen sind unter anderem auch Raben und Delfine zu solch kognitiven Lernprozessen befähigt.
Nachdem der Schwerpunkt der Verhaltensbiologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Beschreibung lag, rückte in der zweiten Hälfte zusehends eine andere Frage in den Mittelpunkt der Forscher: Welche Strategien verfolgen Tiere eigentlich mit ihrem Verhalten, welche Muster sind aus Sicht der Evolution „rational“? Diese neue Perspektive führte zur Entstehung der beiden jüngsten Zweige der Evolutionsbiologie: Soziobiologie und Verhaltensökologie.
Aggression als Strategie
Die Soziobiologie, die der amerikanische Ameisenforscher Edward O. Wilson (einer der Verfechter der These vom „egoistischen Gen“) in den 1970er Jahren begründet hatte, widmet ihre Aufmerksamkeit speziell dem Sozialverhalten von Gruppen. In der Tat ergeben sich die komplexesten Situationen nicht aus der Koexistenz verschiedener Spezies, sondern aus dem Zusammenleben von Artgenossen. Evolutionär gesehen bietet eine soziale Organisation viele Vorteile. Kollektives Jagen, gemeinsame Aufzucht der Jungen, gegenseitiger Schutz oder arbeitsteilige Bewachung des Territoriums erhöhen die evolutionäre Fitness der Gemeinschaft – Strategien, die Einzelgängern nicht offenstehen. Paare, Gruppen, Schwärme, Kolonien, Rotten, Meuten, Rudel oder Herden erzeugen aber auch vielschichtige Interessenskonflikte. Sie benötigen daher Regeln, die über Rollenzuweisungen und soziale Hierarchien den Zugang zu Nahrung und Sexualpartnern festlegen – mit der Erfindung von Gesellschaften wurde das Leben erst so richtig schwierig.
In der Tat erscheint der Umgang, den Artgenossen miteinander pflegen, oftmals aggressiv, hinterhältig und grausam – etwa, wenn Vogeleltern schwache Küken aus dem Nest werfen oder Gottesanbeterinnen ihre Partner verspeisen. Doch Tiere können nicht mit Adjektiven aus dem Kanon menschlicher Moralvorstellungen etikettiert werden. Ihr „Handeln“ ist weder gut noch schlecht; es „ist“ einfach nur. Tierische Aggression lässt sich daher nur aus der Perspektive beurteilen, ob sie hilfreich ist, Interessenkonflikte, um knappe Ressourcen oder Fortpflanzungspartner sinnvoll zu regeln.
Sieht sich ein Tier mit Aggression durch Artgenossen konfrontiert, bestehen seine beiden grundsätzlichen Handlungsoptionen darin, sich kämpferisch oder nachgebend zu verhalten. Um die jeweils beste Strategie zu klären, führte Wilsons englischer Kollege John Maynard Smith das spieltheoretische Konzept der „evolutionär stabilen Strategie“ ein. (Auf die Spieltheorie wir hier näher eingegangen.) Im Kern besagt diese Konzept, „dass die beste Strategie für ein Individuum davon abhängt, was die Mehrheit der Bevölkerung tut.“[iii] Eine Strategie ist dann stabil, wenn sie vom größten Teil der Gruppe praktiziert wird und sich kein Individuum durch alternatives Handeln besserstellen kann.
Dieser etwas vertrackte Gedankengang lässt sich anhand unseres kleinen Tümpels illustrieren, den wir im letzten Biologie-Blog betrachtet haben. Nehmen wir an, dass die Angehörigen einer Froschpopulation untereinander um die Vorherrschaft in dem Biotop wetteifern. Wenn alle Individuen bereit sind, hierfür stets bis zum Tod zu kämpfen, ist dies eine evolutionär stabile Strategie. Es gibt allerdings nur eine Handlungsoption: Kampf. Sie beinhaltet die Chance auf Sieg und damit die Möglichkeit, die eigenen Gene weitergeben zu können. Wer verliert, wird getötet; wer aufgibt auch. Die entscheidende Frage ist, ob es einem Individuum gelingen kann, in dieser Gruppe mit einer alternativen Strategie erfolgreich zu sein. Diese Strategie könnte beispielsweise darin bestehen, zunächst zu kämpfen, im Fall einer sich abzeichnenden Niederlage aber den Kampf rechtzeitig zu beenden und zu fliehen. Dies wahrt einerseits die Chance auf den Sieg, im Fall einer Niederlage aber auch die Option, sich weiterhin fortpflanzen zu können.[iv] In einer Gemeinschaft todesmutiger Frösche können sich daher die Erbanlagen von mutierten Artgenossen, die genetisch bedingt vielleicht mit weniger Testosteron ausgestattet sind, leichter ausbreiten. Umgekehrt haben aggressive Frösche kaum eine Chance, eine Gruppe, die eine flexible Kampfstrategie fährt, genetisch zu unterwandern. Es ist daher wahrscheinlicher, in der Natur die anpassungsfähige Strategievariante anzutreffen.
Damit lassen sich auch die verbreiteten „Hackordnungen“ erklären, die in sozialen Gruppen Hierarchien und Rollenverteilungen festlegen. Die Ordnung ergibt sich aus einer Reihe von „Turnieren“ bei der sich die Gruppenmitglieder vom Alphatier bis hin zum Omegatier nach absteigend dominant-aggressivem Verhalten sortieren. Die Festlegung der Hierarchie erfolgt meist durch Drohgebärden oder ritualisierte Kämpfe mit geringer Verletzungsgefahr, die der Unterlegene mit Unterwerfungsgesten beendet. Aus Sicht der Evolution ist das eine sinnvolle Vorgehensweise: Die physisch stärksten Individuen erhalten die besten Fortpflanzungschancen. Gleichzeitig werden blutige Kämpfe, die die Gesamtfitness der Gruppe schwächen würden, vermieden.
Es geht auch anders
So wie es zwischen den Arten außerhalb der Nahrungskette auch kooperatives Verhalten gibt, sind Dominanz und Unterwerfung keineswegs die einzigen Möglichkeiten, das Zusammenleben innerhalb einer Spezies zu organisieren. Gegenseitige Unterstützung und altruistisches Verhalten können ebenso gut evolutionär stabile Strategien darstellen, mit denen sich statistische Überlebensboni erringen lassen. Besonders häufig sind sie unter Verwandten zu beobachten. Die Selbstlosigkeit ohne Gegenleistung, nimmt dabei mit der Nähe des Verwandtschaftsgrades zu. Mit der Hypothese des „egoistischen Gens“, der zufolge nicht Arten, sondern Gene miteinander ums Überleben kämpfen, lässt sich dieser Edelmut plausibel erklären: Er dient dem Fortbestand ähnlicher Erbanlagen – je enger die familiären Bande, desto mehr gemeinsame Gene teilen die Angehörigen miteinander. Die evolutionäre Kosten-Nutzen-Rechnung des Altruismus geht aus soziobiologischer Sicht immer dann auf, wenn mehr Gene des Verwandten-Pools überleben, als mit dem Opfertod des altruistischen Angehörigen zugrunde gehen.[v] Da beispielsweise Bienen mit ihren Schwestern näher verwandt sind als mit den eigenen Töchtern, erscheint es aus dieser Perspektive sinnvoll, auf Nachkommenschaft zu verzichten und die Königin selbstlos zu unterstützen. Dadurch erreichen mehr eigene Gene die nächste Generation.[vi]
Die Strategien der Weibchen
Auch Beziehungen zwischen Sexualpartnern lassen sich mit der nüchternen verhaltensökologischen Perspektive erklären. Sexuelle Vermehrung bietet einen großen evolutionären Vorteil, denn wo es Eltern gibt, werden die Gene der Nachfahren durchmischt und die Variabilität dadurch verbessert. Doch diesem Vorteil steht ein gewichtiger Nachteil gegenüber: Sexuelle Fortpflanzung ist auf die Akzeptanz eines andersgeschlechtlichen Partners angewiesen. Arten, die sich sexuell vermehren, haben daher zusätzlich zu den bereits vorhandenen Auslesefaktoren noch einen weiteren Stressor: Nur wer einen Partner gewinnen kann, kann auch seine Gene weitergeben.
Die sexuelle Selektion setzt insbesondere die Männchen unter Zugzwang, denn bei den meisten Arten entscheiden die Weibchen, welchen Partner sie akzeptieren. Das hat seinen Grund. Männchen sind oftmals bereit, sich wahllos fortzupflanzen; ihr Keimzellenangebot ist praktisch unbegrenzt. Anders die Weibchen. Sie gehen in fast allen Fällen das größere „Investitionsrisiko“ ein, denn die Anzahl der Nachkommen, die sie gebären können, ist beschränkt. Beruht das Paarungsverhalten der Art auf Polygamie oder Promiskuität, dürfen sie zudem von den Männchen nicht allzu viel Unterstützung bei der Aufzucht
erwarten.
Weibchen haben somit das Problem, aus einem großen Angebot männlicher Anwärter den passendsten herausfinden zu müssen. In jenen Fällen, bei denen das Weibchen vom Partner außer Spermien nicht allzu viel erwarten darf, können sich die Auswahlkriterien nur an Äußerlichkeiten orientieren. Das wiederum zwingt die Männchen auf dem Paarungsmarkt ein Marketing in eigener Sache zu betreiben, das die Weibchen beim Bewerber „tüchtige Gene“ vermuten lässt. Die potentiellen Väter versuchen durch Körpergröße, ein auffälliges Fell oder Federkleid oder eine dominante Stellung in der Gruppenhierarchie ihre „Fitness“ zu demonstrieren. Da Männchen, die mutationsbedingt zufällig über derartige Attribute verfügen, von den Weibchen als Fortpflanzungspartner bevorzugt werden, entwickelte sich im Laufe der Evolution bei vielen Arten das Erscheinungsbild der beiden Geschlechter zunehmend auseinander. Das Ergebnis waren stolze Hähne, prahlerische Pfauen und imposante Gorillamännchen. Dieser Sexualdimorphismus funktioniert nach dem Prinzip: Wer auffällt, gewinnt! Die Männchen zahlen für diese Strategie oftmals einen hohen Preis, denn ihr Aussehen erregt nicht nur die Aufmerksamkeit des weiblichen Geschlechts, sondern auch die zahlreicher Fressfeinde. Die Weibchen hingegen bleiben unscheinbar – da das männliche Angebot die weibliche Nachfrage übersteigt, müssen die Weibchen sich bei der Partnerwahl nicht selbst in Szene setzen.

Ganz anders sieht es bei Arten aus, die gemeinsam Brutpflege betreiben. Bei ihnen gleichen sich die beiden Geschlechter in ihrem äußeren Erscheinungsbild. Durch die gemeinsame Aufgabe entsteht eine Bindung, die einen Dimorphismus überflüssig macht. Meist hält diese Bindung nur für die Dauer einer Fortpflanzungsperiode. In einigen wenigen Fällen aber, wie bei Höckerschwänen, Wölfen, Bibern und Walen, bedeutet sie eine lebenslange monogame Partnerschaft. Das äußere Erscheinungsbild der meisten Wirbeltierarten erlaubt also recht zuverlässige Schlüsse auf ihr Sexual- und Beziehungsverhalten.

Evolutionäres Erbe
Kuckuckskinder, Zweckgemeinschaften, Altruismus, Imponiergehabe, Drohgebärden, promiske oder monogame Partnerschaften: Aus Sicht der Verhaltensökologen und Soziobiologen verbergen sich hinter all diesen Strategien evolutionäre Kosten-Nutzen-Rechnungen, für die sich Überlebensboni kalkulieren lassen und deren Gewinne in Form der Anzahl überlebender Junger ausgezahlt werden.[vii] Die Sprache, mit der Soziobiologen tierisches Verhalten beschreiben, könnte auch aus einen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbuch stammen. Viele dieser Strategien kommen uns merkwürdig bekannt vor – wir finden sie auch in praktisch jeder menschlichen Gesellschaft. Das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich sind auch wir Produkte des Evolutionsprozesses. Viele unserer ererbten Verhaltensprogramme sind Millionen Jahre alt; sie wurden weitergegeben, weil sie sich bewährt haben.
Die Soziobiologie erscheint somit auch als hilfreicher Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Allerdings ist sie keine hinreichende Erklärung. Denn als einzige Spezies auf unserem Planeten verfügen wir über ein entwickeltes Bewusstsein. Das bedeutet im Kern, dass wir – anders als Tiere – uns bewusst für oder gegen etwas entscheiden können. Mit naturwissenschaftlichem Determinismus allein ist menschlichem Verhalten also nicht beizukommen. Der zweite Teil des Buches wird sich daher ausschließlich mit den Regeln befassen, nach denen Menschen kommunizieren, handeln und entscheiden. Menschliches Verhalten ist ein Spannungsfeld, das größer kaum sein könnte: Hunderte von Millionen Jahre alte Gene liegen im Wettstreit mit evolutionär gesehen sehr jungen neuronalen Strukturen, die uns Geist einhauchen und Sprache und Kultur bescheren. Wie frei können wir angesichts des schweren evolutionären Marschgepäcks in unseren Entscheidungen überhaupt sein? Und sofern wir diese Freiheiten tatsächlich haben: Wie sollen wir mit ihnen umgehen?
Wer mehr wissen will:
Dawkins, Richard (1996): „Das egoistische Gen“, Rowohlt.
Gigerenzer, Gerd (2013): „Risiko“, C. Bertelsmann.
Bildnachweise:
[i] Der Begriff „Instinkt“, der in Lorenz‘ und Tinbergens Theorie eine zentrale Rolle spielt, fehlt in der folgenden Liste. Instinkt wurde in der Biologie nie eindeutig definiert, so dass er heute in wissenschaftlichem Zusammenhang meistens vermieden wird.
[ii] Die theoretische Zuordnung bestimmter Verhaltensweisen ist oftmals umstritten. So gibt es beispielsweise unterschiedliche Auffassungen, ob die Angst vor Spinnen und Schlangen ein angeborener Reflex ist, oder durch Imitation der Schreckreaktion der Eltern tradiert wird. (Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (2017) und Gigerenzer (2013) S. 108 ff.)
[iii] Dawkins (1996) S.119.
[iv] Der englische Dichter Samuel Butler (1612-1680) formulierte es einmal so: „Wer flieht, kann später wohl noch siegen, ein toter Mann bleibt ewig liegen.“
[v] Mit seinem Bruder teilt man nach den Gesetzen der meiotischen Teilung durchschnittlich die Hälfte, mit seinem Cousin ein Achtel seiner Gene. Der Evolutionsbiologe J.B.S Haldane antwortete daher einmal auf die Frage, ob er sein Leben geben würde, um seinen ertrinkenden Bruder zu retten: “Nein, aber ich würde es tun, um zwei Brüder oder acht Cousins zu retten”. Zitiert nach McElreath / Boyd (2007) S.82.
[vi] Da Bienen-Männchen nicht sexuell gezeugt werden, tragen sie nur einen einfachen Chromosomensatz. Da er diesen bei der eigenen sexuellen Vermehrung vollständig an jedes Kind weitergibt, ist der Bienenvater mit seinen Töchtern zu 75% verwandt, die Mutter hingegen nur zu 25%.
[vii] Vgl. Dawkins (1996) S. 329.
