Ökologie für Anfänger: Im Dschungel der Wechselwirkungen
- Jens Bott
- 4. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen
Im Dschungel der Wechselwirkungen
Betrachtet man die Erde im Querschnitt, so findet sich fast alles Leben innerhalb einer hauchdünnen Schicht von nur wenigen hundert Metern Durchmesser. An den extremen Rändern der Biosphäre – Tiefseegräben und Troposphäre – macht sich das Lebendige bereits äußerst rar. Das Drama der Evolution spielt auf einer Bühne, dünn wie Blattgold. Und dennoch hat dieser winzige Lebensstreifen das Antlitz der Erde verändert, spätestens seit vor 3,4 Milliarden Jahren Einzeller damit begannen, die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern.

Mit der Entwicklung sich selbst replizierender Moleküle hat sich die Komplexität der Wechselwirkungen auf unserem Planeten dramatisch vervielfacht. Einer der ersten, der dieses Beziehungsgeflecht systematisch untersuchte, war der Arzt, Zoologe und frühe Darwin-Verfechter Ernst Haeckel, der 1866 für die neue Wissenschaft den Begriff Ökologie prägte.[i]
Thermodynamische Systeme und Kreisläufe
Ein grundlegendes Problem der Ökologie besteht darin, Wechselwirkungen voneinander abzugrenzen. Letztlich ist die Erde ein einziges, großes und offenes Ökosystem, das geordnete Sonnenenergie ein- und ungeordnete Wärme ausatmet; ein unablässiger Energiestrom, dessen Entropiedifferenz Atmosphäre, Meere, Landschaften und Lebewesen pausenlos in Bewegung hält, ein ständiges Werden und Vergehen, bei dem Bakterien, Pilze, Pflanzen und Tiere Stoffe und Energie aufsaugen, um sie in immer wiederkehrenden Kreisläufen auf- um- und abzubauen. Ihr Leben und Sterben wirkt auf andere Lebewesen und die unbelebte Natur zurück – ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten, bei dem fast alles auf fast alles andere direkten oder indirekten Einfluss hat.
Ökosysteme
Um dieser Komplexität Herr zu werden, lösen die Ökologen das System Erde in kleinere Teilsysteme mit ähnlichen Rahmenbedingungen auf: Regenwälder, Geröllwüsten, Tundren, Korallenriffe oder Moore. Betrachten wir beispielhaft eines der wenigen verbliebenen mitteleuropäischen Moore, in dem sich ein kleiner Tümpel befindet. Auch der Tümpel ist ein Ökosystem. Es ist geprägt durch ein gemäßigt feuchtes Klima mit Jahreszeiten; der sauerstoffarme, leicht saure Moorboden sorgt dafür, dass Pflanzenreste nicht vollständig verrotten; Gräser, Wiesenknöterich, Lichtnelken, Kalmus, Teichrosen und Tausendblatt leben in einer Gemeinschaft, einer Biozönose, zusammen mit Insekten, Schnecken, Fischen, Fröschen und Störchen.

Die Grenzen des kleinen Ökosystems sind fließend. Energie, Baustoffe, neue Tiere und Pflanzen strömen hinein, bleiben, oder verlassen das System wieder. Die Pflanzen entnehmen der Luft Kohlenstoff, dem Boden Wasser, Stickstoff, Schwefel und Phosphor und bauen mit Hilfe der Sonnenenergie ihr Gewebe auf. Um leben und wachsen zu können fressen Schnecken die Pflanzen, verdauen die Baustoffe und befreien damit die gefangene Sonnenenergie wieder. Frösche fressen die Schnecken, nur, um ihrerseits Störchen zum Opfer zu fallen. Mit jedem Schritt werden Energie und Materie an eine höhere Ebene der Nahrungskette weitergereicht.

Wie effizient sind Nahrungsketten?
In dieser Haushaltsgemeinschaft sind Pflanzen Produzenten, Schnecken Primärkonsumenten, Frösche Sekundärkonsumenten und Störche Endkonsumenten – Meister Adebar steht an der Spitze der Nahrungskette des kleinen Biotops. Aus thermodynamischer Sicht ist der Energiefluss entlang der Nahrungskette alles andere als effizient. Auf der untersten Stufe verwenden die Pflanzen die Hälfte der empfangenen Sonnenenergie für den Erhalt ihrer Lebensfunktionen; der Rest wird in den Aufbau der eigenen Biomasse investiert. Nur diese zweite Hälfte steht den Schnecken zur Verfügung. Doch der Energiebedarf von Konsumenten ist größer als der der Pflanzen – sie bewegen sich und müssen wesentlich komplexere Strukturen mit ATP versorgen. Tiere können daher nur etwa 10% der gefressenen Energie dem Aufbau der eigenen Körpermasse widmen. Ein armseliger Wirkungsgrad, der sich auf jeder weiteren Stufe der Nahrungskette wiederholt: Von 100 pflanzlich erzeugten Energieeinheiten kommen 50 bei den Schnecken an, 5 bei den Fröschen und nur noch eine halbe bei den Störchen. Pflanzen machen also viel mehr Tiere satt als Fleisch. Der abnehmende Wirkungsgrad der Nahrungskette sorgt zwangsläufig dafür, dass sich die Zahl der Konsumenten und damit das Risiko, selbst als Beute zu enden, nach oben hin zunehmend verringert.
Überlebensstrategien und Gleichgewichte
Ihren spezifischen Sterberisiken begegnen die verschiedenen Spezies mit unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien. Tiere, die in der Sprache der Ökologen eine so genannte „r-Strategie“ verfolgen, sind typischerweise klein, leicht zu erbeuten und am unteren Ende der Nahrungskette angesiedelt – rund um unseren Tümpel etwa Insekten, Schnecken, Mäuse oder Frösche. Diese Nachteile kompensieren r-Strategen durch hohe und schnelle Reproduktionsraten. Da die Eltern in der Regel nicht alt werden, muss der r-Nachwuchs rasch auf eigenen Beinen stehen. Demgegenüber setzen „K-Strategen“, wie der Storch, auf wenige Nachkommen. Das erlaubt es ihnen, in den Nachwuchs zu investieren. Die Jungen bleiben zwar länger abhängig, haben aber aufgrund elterlicher Fürsorge bessere Überlebenschancen und mehr Zeit zu lernen.
Entspricht das Verhältnis von Beutetieren zu Räubern in einem Ökosystem nicht den von der Nahrungskette geforderten Proportionen, treten Selbstregulationsmechanismen in Kraft. Gibt es zu viele Störche, geht die Froschpopulation unseres Teiches zurück. Das wiederum führt mit der Zeit zu einer Verringerung des Storchenbestandes. Die Frösche können sich dann erholen, so dass infolge auch die Zahl der Störche wieder zunimmt. So bildet sich ein dynamisches Gleichgewicht; in einem gesunden Ökosystem wird es keine großen Ausschläge zeigen.[ii]
Der Gang alles Irdischen
Die Nahrungskette ist ein kleiner Teil eines großen Kreislaufs. Denn auch die Störche, als Spitzenprädatoren unseres winzigen Ökosystems, gehen am Ende den Weg alles Irdischen. Auf den verlassenen Schlachtfeldern der Selektion zerlegen Würmer, Insekten, Pilze und Bakterien als Destruenten unauffällig organisches Material durch Fäulnis und Verwesung wieder in seine chemischen Ausgangsstoffe. Destruenten kehren die Aufbaureaktionen der Biomassen um, indem sie Abfällen, Exkrementen und Leichen ihre letzte verbliebene chemische Bindungsenergie entziehen. Ohne ihr destruktives Werk würde sich überall tote organische Materie aufhäufen und das Leben über kurz oder lang ersticken. Die Destruenten bewahren uns vor diesem schrecklichen Schicksal und geben gleichzeitig der unbelebten Natur den geborgten Kohlenstoff, Stickstoff Schwefel und Phosphor wieder zurück (Was geschehen kann, wenn ein Glied im Stoffkreislauf fehlt, zeigte sich im letzten Jahrhundert in Australien. Auf dem isolierten Kontinent gab es keine Destruenten, die in der Lage waren, den Dung der von den Europäern eingeführten Rinder und Schafe zu zersetzen. Das Problem konnte erst durch den Import afrikanischer und europäischer Mistkäfer gelöst werden.)

Neue Generationen von Leben können nun die Elemente wieder einfangen und das Spiel von vorne beginnen lassen. So wandern die Stoffe im Kreislauf zwischen belebter und unbelebter Natur hin und her.
Das Leben ist auch kooperativ
Bei der Betrachtung von Nahrungsketten könnte leicht der Eindruck entstehen, dass Biozönosen vor allem durch unerbittliche Räuber-Beute-Beziehungen geprägt sind. Doch wesentliche Teile der irdischen Biomasse leben durchaus friedlich zusammen. Der konstruktive Gegenentwurf zum Räuber-Beute-Schema ist die Symbiose. Sie kennt keine Verlierer: Pilze und Bakterien bilden gemeinsam Flechten, bei denen die Pilze die Bakterien vor Austrocknung schützen und dafür im Gegenzug mit Nährstoffen versorgt werden. Blütenpflanzen entlohnen Bienen für ihre Bestäubungsdienste mit Pollen. Ameisen dürfen als Schutzmacht der Blattläuse deren Honigtau melken. Und Darmbakterien ist es gestattet, es sich als Gegenleistung für ihren Stoffwechselbeitrag im Verdauungstrakt von Mensch und Tier gemütlich zu machen. Aus Sicht der Evolution ist jede Strategie gut, die den Fortpflanzungserfolg erhöht.
Passt das?
Viele Lebewesen scheinen auf den ersten Blick für ihre Umwelt wie geschaffen. Teichrosen, Knöterich, Frösche, Wasserflöhe, Libellen, Schleien und Störche sind hervorragend an das Biotop Tümpel angepasst – so gut, dass man sich dieses Phänomen vor Lamarck und Darwin nur mit einem intelligenten Schöpfer erklären konnte. Die Passgenauigkeit der verschiedenen Spezies mit ihrem Milieu wird – etwas irreführend – als ökologische Nische bezeichnet. In den nüchternen Augen der Ökologen sind diese Nischen einfach nur Planstellen, die im Biotop zu vergeben sind: Wer die ausgeschriebenen Bedingungen am besten erfüllt, bekommt die Stelle. Wie bei anderen Auswahlverfahren auch, wird aber kaum ein Kandidat allen Anforderungen zu hundert Prozent gerecht. Jede Art hat ein spezifisches Optimum aus Umweltfaktoren – Wasservorkommen, Temperatur, Schatten, Luftfeuchtigkeit, Nahrungsquellen – das ihrem physiologischen Wohlbefinden und damit ihren Fortpflanzungschancen am besten entspricht. Naturgemäß versuchen alle Arten, diese Nischen zu finden und zu besetzen. Überschneiden sich die Präferenzen mit denen einer anderen Art, entsteht Konkurrenz. Die unterlegene Art muss sich dann in einer Nische jenseits ihres Optimums ansiedeln. Daher leben die meisten Arten tatsächlich nicht unter den Bedingungen, unter denen sie am besten gedeihen würden. Müssen die Frösche etwa Kröten weichen, bleibt ihnen, falls sich kein anderer Tümpel findet, vielleicht nur die Möglichkeit, sich an einem benachbarten Fließgewässer niederzulassen. Das ist bei langsamen Fließgeschwindigkeiten möglich, entspricht aber nicht den optimalen Lebensbedingungen der Frösche. Jede Art hat gegenüber Abweichungen von ihrem idealen Mix an Lebensbedingungen eine mehr oder minder große Toleranz. Wie gut eine bestimmte Spezies diese Abweichung verträgt, lässt sich mit Hilfe von Toleranzkurven darstellen. Mit ihnen beschreiben Ökologen jene Bereiche von Umweltfaktoren – für unseren Frosch etwa die Fließgeschwindigkeit eines Gewässers – mit denen eine Art jeweils zurechtkommen kann.
Das Überschreiten von Toleranzschwellen bedeutet den Tod. Der Tod, den wir als „natürlich“ bezeichnen, das Sterben aus Altersschwäche, kommt in der Natur kaum vor. Jämmerlich zu verdursten, zu verhungern, zu erfrieren, erbarmungslosen Mikroben oder Fressfeinden zum Opfer zu fallen, im Schatten größerer Gewächse zu verenden oder sonst wie im Kampf um die Nische zu unterliegen, ist die Bestimmung der allermeisten Pflanzen und Tiere. So haben Rotkehlchen eine Lebenserwartung von einem Jahr, freilaufende Katzen von drei Jahren.[iv]
Störfaktor Mensch
Der Mensch und die mit ihm entstandene kulturelle Evolution ist ein neuer Spieler in diesem Beziehungsgeflecht, ein Spieler, der die bisherigen rein biologisch-ökologischen Gleichgewichtszustände massiv zu stören vermag. Heute führt der Homo sapiens dem Kohlenstoffkreislauf große Mengen von CO2 zu, die viele Millionen Jahre lang als Kohle-, Erdöl- und Erdgaslager im Boden dem globalen Stoffwechselspiel entzogen waren. Er vermindert damit die Fähigkeit unseres offenen Systems Erde, die empfangene Sonnenenergie wieder abzustrahlen. Die daraus folgende Erwärmung wird zahlreiche Arten über die Ränder ihrer Toleranzkurven bringen. Die Biosphäre wird diesen Eingriff überleben, ihr dynamisches Gleichgewicht aber wird danach ein anderes sein. Wie alle Biotope auf unserem Planeten werden dies auch die Bewohner unseres kleinen Tümpels zu spüren bekommen.
Wer mehr wissen will:
Bildnachweise:
Anmerkungen
[i] Das Wort Ökologie leitet sich ebenso wie der Begriff Ökonomie von dem griechischen Wort „oikos“ ab, der Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft im alten Griechenland. Ökologie ist also die Lehre vom Haushalt der Natur.
[ii] Dieser Zusammenhang wurde mathematisch erstmals und – einmal mehr – unabhängig voneinander durch den österreichischen Mathematiker Alfred Lotka und den italienischen Physiker Vito Volterra in Form nichtlinearer Differentialgleichungen beschrieben.
[iv] Bis heute fehlt eine allgemein anerkannte Theorie, die das biologische Phänomen Tod umfassend erklärt. Dass der Tod zwingend zum Leben gehöre, ist eine gängige, aber falsche Vorstellung. Denn Einzeller – sie repräsentieren immerhin die Hälfte der Biomasse der Erde – sind potentiell unsterblich: Grundsätzlich hindert sie nichts daran, sich endlos weiterzuteilen. Die Zwangsläufigkeit des biologischen Tods ist auf mehrzellige, arbeitsteilige Organismen beschränkt, in denen früher oder später lebenswichtige Gewebeteile ausfallen.
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