Der Liberalismus schlägt zurück!
- Jens Bott
- vor 5 Tagen
- 10 Min. Lesezeit
Hayek vs. Keynes – ein Schlagabtausch
Keynes prominentester Gegenspieler in dieser Debatte war der Österreicher Friedrich von Hayek (1899-1992). Hayek, der an der London School of Economics unterrichtete, war in den 1930er und 1940er Jahren die zentrale Figur des Neoliberalismus, einer Strömung, die sich, ganz in der Tradition Lockes, Humes und Smiths, scharf gegen jeglichen staatlichen Eingriff wandte. Privat schätzten sich Keynes und Hayek sehr; in der Öffentlichkeit aber lieferten sich die beiden einen aufsehenerregenden Schlagabtausch.

In seinem 1945 erschienenen viel beachteten Artikel „The Use of Knowledge in Society“ lieferte Hayek eine umfassende theoretische Begründung für seine Einwände. Demnach hat sich die von Smith beschriebene Arbeitsteilung infolge der Industriellen Revolution zu einer Wissensteilung weiterentwickelt. Das Wissen der Welt ist aber nicht die Summe aller wissenschaftlichen Theorien und empirischer Untersuchungen, sondern völlig dezentral in der Gesellschaft auf Millionen von Akteure verteilt. Paradoxerweise sind genau aus diesem Grund Märkte so erfolgreich. Niemand muss alle Bedingungen kennen, damit eine komplizierte Werkzeugmaschine oder auch bloß eine Stecknadel entstehen kann. Es ist der Preismechanismus, der dafür sorgt, dass alle Beteiligten ihr Wissen auf andere Marktteilnehmer übertragen. Nur eine dezentral organisierte Wirtschaft kann sicherstellen, dass Menschen entsprechend ihrer Fähigkeiten eingesetzt, überschüssige Lagerbestände sinnvoll verwendet und Maschinen optimal ausgelastet werden. Fehlt ein Baustein – ein Ersatzteil für die Maschine oder das Wissen, wie sie repariert werden muss – wird der Marktpreis entsprechende Anreize dafür liefern, dass jemand das fehlende Teil herstellt oder die Maschine repariert. Wer auch immer das Problem löst, muss nicht verstehen, warum es entstanden ist. Er muss nur verstehen, welche relative Wichtigkeit das Problem für jemand anderen hat. Die andere Seite signalisiert diese Bedeutung über den Gegenwert, den sie für die Problemlösung herzugeben bereit ist. Das ist die eigentliche Aufgabe des Preissystems.[i]
Spontane Ordnung
Dass eine dezentral organisierte Wirtschaft tatsächlich funktioniert, ist für Hayek Ausdruck eines übergeordneten Prinzips, das er als „spontane Ordnung“ bezeichnet. Die Idee ist nicht neu. Bereits der anarchistische Theoretiker Pierre-Joseph Proudhon, für den Anarchie „Ordnung ohne Macht“ bedeutete, hatte behauptet, dass unter völlig freien Menschen eine solche spontane Ordnung ganz von allein entstehen würde. (Anarchisten und radikale Wirtschaftsliberale haben daher mehr gemeinsam, als man denkt.)
Aus diesem Grund ist Hayek auch überzeugt, dass eine zentrale Planwirtschaft nicht funktionieren kann: sie lässt keinen Raum für spontane Ordnung. Ihre Verkünder möchten alles planen und kontrollieren. Es ist aber schlichtweg unmöglich, das verteilte Wissen, die Schwarmintelligenz unzähliger Wirtschaftssubjekte, in einer zentralen Instanz zusammenzuführen. Der sozialistische Anspruch, volkswirtschaftliche Produktions- und Nachfragefunktionen zentral planen zu können ist eine Allmachtsphantasie, eine Anmaßung, die nie Wirklichkeit werden kann.
Aus dieser Überzeugung speist sich Hayeks zentrales Argument gegen die keynesianische Theorie: Sobald der Staat lenkend in ein freies Wirtschaftssystem eingreift, sind dem Sozialismus Tür und Tor geöffnet. Preissignale können dann eben nicht mehr die unverzerrten Informationen liefern, die alles harmonisch zusammenführen. Zentraler Dirigismus bedeutet letztlich immer, dass die falschen Dinge mit falschen Mengen zur falschen Zeit bereitgestellt werden – eine fatale Situation in einer Welt knapper Ressourcen. Sobald der Staat versucht, Mietpreise zu begrenzen, Wechselkurse durch die Zentralbank zu fixieren oder Immobilienzinsen künstlich zu verbilligen, verhindert er, dass Preise korrekte Knappheitssignale an den Markt senden, die Fehlentwicklungen ganz von allein korrigieren würden: Potentielle Investoren für neuen Mietraum ziehen sich dann aus dem Immobilienmarkt zurück; die Exportwirtschaft verschläft Strukturreformen; Haushalte erbwerben Immobilien, die sie sich nicht leisten können. Mit alldem ist niemandem geholfen – im Gegenteil. Der Staat soll daher seine Rolle strikt darauf beschränken, die Wettbewerbsordnung aufrechtzuerhalten und Kartelle und Monopole zu verhindern. Eine effektive Koordination können allein freie Märkte sicherstellen.
Was verursachte die Große Depression?
Die Ursache der Weltwirtschaftskrise von 1929 liegt für Hayek nicht in starren Lohnkosten, sondern in einer verfehlten Zinspolitik der amerikanischen Zentralbank. Diese hatte während der Goldenen Zwanziger die Leitzinsen durch eine expansive Geldpolitik auf ein unnatürlich niedriges Niveau gesenkt und Unternehmen, Haushalte und Banken dazu verleitet, hohe Risiken einzugehen. In der dadurch angefachten Hochkonjunktur stiegen mit den Verbraucherpreisen bald auch wieder die Zinsen – schließlich erwarteten die Sparer für ihren Konsumverzicht während des Booms eine angemessene Vergütung. Viele der zunächst mit niedrigen Zinsen kalkulierten Investitionsprojekte lohnten sich nun nicht mehr; eine Gefahr, auf die Hayek bereits 1928 hingewiesen hatte. Dass die Große Depression ein Jahr später die Welt zu lähmen begann, schien ihm der schlagende Beweis für die Richtigkeit seiner Annahme zu sein. Bis 1931 entwickelte Hayek aus seiner These eine umfassende Konjunkturtheorie. Auf den Nobelpreis, der ihm hierfür zugesprochen wurde, musste er allerdings noch 43 Jahre warten.[ii]

Für Hayek war der Staat Ursache des Problems, für Keynes war er die Lösung. Den öffentlichen Schlagabtausch in den 1930er Jahren verlor Hayek allerdings. Seine radikalliberale Position konnte sich nicht durchsetzen. Keynes Theorie wurde hingegen in zahlreichen Industrieländern schon bald fester Bestandteil der praktischen Wirtschaftspolitik. Der „New Deal“ mit dem Franklin Delano Roosevelt ab 1933 die Politik des unglücklich agierenden Krisenpräsidenten Herbert Hoover erfolgreich ablöste, trug bereits unverkennbar keynesianische Züge. Auch das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ von 1967, das am Ende des westdeutschen Wirtschaftswunders einen Absturz verhindern sollte, atmet den Geist des englischen Ökonomen.
Die steile Karriere des Sozialstaats
Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich mehr und mehr, dass die meisten Regierungen, anders als von Keynes vorgesehen, ihre Schulden in guten Jahren nicht zurückzahlten, sondern sich weiter verschuldeten, um damit Wohltaten für die Wähler zu finanzieren. So kletterte bis 2017 die Staatsverschuldung in Frankreich und den USA auf 100% des BIP, in Italien auf 130%, in Japan auf fast 240%. Das Monopol auf wichtige Dienstleistungen und eine wachsende Schar von Bediensteten ließen den Staat zu einem volkswirtschaftlichen Schwergewicht werden, so dass – ebenfalls auf das Jahr 2017 bezogen – die Staatsquote, das heißt der Anteil staatlicher Leistungen am BIP, in den USA auf 38%, in Deutschland auf 45% und in Frankreich auf 56% anschwoll. (Vergleicht man Frankreich und die USA, findet Tocquevilles Betrachtung des französischen Primats der Gleichheit über die Freiheit auch fast 200 Jahre später noch eine Bestätigung).
Das Gespenst der Inflation!
Hayek hatte 1950 eine Professur an der Universität von Chicago angenommen. Dort lehrte seit bereits vier Jahren auch Milton Friedman (1912-2006), der als bekanntester Vertreter der neoliberalen Chicagoer Schule zum einflussreichsten Ökonomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden sollte. Friedman wollte sich weder Hayeks Krisentheorie noch der interventionistischen Konjunkturpolitik der Keynesianer anschließen. Einer seiner wichtigen Einwände gegen Keynes war, dass in einer Rezession die staatlichen Investitionsprogramme erst dann wirken würden, wenn sich die Wirtschaft bereits wieder von allein erholt hat. Die verspäteten Maßnahmen wirken durch den Verzögerungseffekt dann wie Öl auf das Feuer der natürlichen Konjunktur, die infolge überhitzt und so die Inflation entzündet.
Tatsächlich wurden die USA in den 1970er Jahren von einer hohen Inflation geplagt, die bis 1980 auf über 13% angestiegen war. Friedman sah darin eine große Gefahr für die konjunkturelle Entwicklung. Wenn die Zentralbanken durch eine verfehlte Politik zu viel Geld in Umlauf bringen, verlieren die Preise ihre Fähigkeit, Ressourcen effizient allozieren zu können. Die Verbraucher wissen nun nicht mehr, ob der Preis eines Guts gestiegen ist, weil sich sein Wert angebots- oder nachfragebedingt tatsächlich erhöht hat, oder ob er Folge einer gesteuerten Geldschwemme ist. Noch dramatischer aber ist die gegenteilige Entwicklung: Eine preisliche Abwärtsspirale ruft das Gespenst der Deflation wach. In der Erwartung weiter fallender Preise schieben die Menschen ihre Konsumwünsche auf. Die schwindende Nachfrage aber wird zu einem fatalen Strudel, der den gesamten Wirtschaftskreislauf nach unten zieht.

Friedman hatte in den späten 1940er Jahren umfangreiche empirische Forschungen betrieben, die ihn zu dem Schluss kommen ließen, dass die Krise von 1929 weder durch Keynes´ starre Löhne noch durch Hayeks niedrige Leitzinsen, sondern primär durch eine verfehlte Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank verursacht wurde. Aus dieser These Friedmans entstand die neoliberale Schule der Monetaristen. Nach deren Überzeugung muss die Zentralbank die Geldmenge so steuern, dass gefährliche inflationäre und deflationäre Entwicklungen vermieden werden. Steigen die Preise zu schnell, muss die Zentralbank die Geldmenge verringern; im Fall einer drohenden Deflation müssen die Währungshüter die Geldmenge hingegen erhöhen. Wünschenswert ist aus Sicht der Monetaristen eine kontrollierte Inflationsrate von 2-3%. Nach ihrer Überzeugung ließe sich damit ein Überhitzen oder Abgleiten in eine Rezession wirkungsvoller vermeiden als mit keynesianischer Nachfragepolitik. Dahinter verbirgt sich eine bemerkenswerte Weiterentwicklung des neoliberalen Gedankens: Anders als Hayek vertritt Friedman eine pragmatische Position, die dem Staat eine aktive Rolle in der Konjunkturpolitik zugesteht.[iii]
Eine einflussreiche Geldtheorie
Dreh- und Angelpunkt des monetaristischen Denkens ist die Quantitätstheorie des Geldes. Ihr liegt die bereits von Aristoteles und Adam Smith beschriebene Vorstellung zugrunde, dass Geld lediglich ein Schleier ist, ein Mittel, das letztlich allein dem Warenaustausch dient. Geldmenge und Gütermenge müssen sich demnach entsprechen. Dass dieser Zusammenhang nicht ganz trivial ist, hatten bereits Quesnay und John Locke erkannt: Geld wechselt innerhalb eines gegebenen Zeitraums mehrfach die Hand. Eine Geldeinheit dient also im Wirtschaftskreislauf dazu, mehrere Güter zu erwerben. Dazu kommt der Einfluss der Inflation: Wenn bei gegebener Gütermenge das Preisniveau steigt, muss zusätzliches Geld in Umlauf gebracht werden.
Der Erste, der all diese Faktoren in einen formelmäßigen Zusammenhang brachte, war der amerikanische Ökonom Irving Fisher (1867-1947). Die Grundformel seiner Quantitätsgleichung besagt, dass die Geldmenge M, multipliziert mit der Umlaufgeschwindigkeit V, der Anzahl der Transaktionen T multipliziert mit dem Preisniveau P entsprechen muss: M ∙ V = T ∙ P. Die Summe aller Zahlungen (M ∙ V) muss also der Summe des Wertes aller Käufe (T ∙ P) entsprechen. Der Geldmengenbedarf lässt sich errechnen, indem man den Wert aller Käufe durch die Anzahl der Transaktionen dividiert. In einer komplexen Volkswirtschaft mit Millionen von Akteuren und Gütern, ist es allerdings faktisch unmöglich, die Transaktionenanzahl auch nur annähernd zu erfassen. Aus praktischen Gründen wird daher die Anzahl der Transaktionen T meist durch die gesamtwirtschaftliche Produktionsmenge Y ersetzt: M ∙ V = Y ∙ P. In unserem simplen Beispiel zum portugiesischen Bruttoinlandsprodukt wäre Y also 100 Fässer Wein. Damit wird vereinfachend unterstellt, dass Geldmenge mal Umlaufgeschwindigkeit dem Wert der gesamtwirtschaftlichen Produktion entspricht.
Steigt die Produktion, wie in unserem Beispiel im Folgejahr real um 10% auf 110 Fässer, muss die Zentralbank auch 10% mehr Geld in Umlauf bringen, vorausgesetzt, Umlaufgeschwindigkeit und Preisniveau bleiben gleich. Bis zu diesem Punkt beschreibt die Fishersche Quantitätsgleichung nicht mehr als einen einfachen mathematischen Zusammenhang, eine Identität. Milton Friedman erst machte daraus die monetaristische Quantitätstheorie des Geldes, indem er die Konstanz der Umlaufgeschwindigkeit unterstellte. Steigt die Geldmenge M stärker als das reale Bruttosozialprodukt Y, muss bei gleichbleibender Umlaufgeschwindigkeit V das Preisniveau P steigen, um die Identität der Gleichung aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten: Es entsteht Inflation. Oder, wie Friedman es ausdrückte: „Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen.“
Wie die Spanier im 16. und 17. Jahrhundert durch ihre importierten Silberschätze erfahren mussten, entsteht durch mehr Geld aber keinesfalls mehr Wohlstand. Dennoch ist die Versuchung für manche Staaten auch heute noch groß, sich ihrer Probleme über die Notenpresse entledigen zu wollen. In vielen Industrieländern sind heute daher die Zentralbanken von den Weisungen ihrer Regierungen mehr oder minder unabhängig und gesetzlich verpflichtet, Geldwert und Kaufkraft ihrer Bürger zu erhalten.[iv]
Kurzfristig kann nach Friedmans Ansicht eine geschickte Geldpolitik helfen, aus einem konjunkturellen Tief herauszufinden. Zum einen ist eine mäßige Geldentwertung ein effektives Mittel, die Reallöhne zu senken und so, gleichsam durch die Hintertür, Keynes Problem der rigiden Löhne in den Griff zu bekommen. Bei 3% Inflation entspricht eine Lohnerhöhung von 1% faktisch einer 2%igen Lohnkürzung. Aufgrund der Geldwertillusion wird diese schleichende Form der Enteignung von den Arbeitnehmern nicht vollumfänglich wahrgenommen. Mit dieser Täuschung können die Zentralbanken zumindest kurzfristig die Wirtschaft stimulieren.
Ein Modell, um die Wirtschaft anzukurbeln
Der zweite wichtige Effekt der kontrollierten friedmanschen Inflationspolitik lässt sich anhand des IS-LM Modells illustrieren: Eine Ausweitung der Geldmenge verschiebt die LM-Kurve nach rechts. Das vergrößerte Angebot lässt kurzfristig die Zinsen fallen, ein Anreiz für mehr Investitionen. Letztlich soll dadurch derselbe Mechanismus in Gang gesetzt werden, auf den auch Keynes abzielte: Vermehrte Investitionen führen zu vermehrten Einstellungen. Das neue Gleichgewicht zwischen Finanz- und Investitionsmärkten erzeugt ein höheres reales Bruttoinlandsprodukt, ohne dass der Staat selbst dafür Geld ausgeben müsste:

Bei einer Kombination von keynesianischer Nachfragepolitik mit monetaristischer Geldpolitik müssten sich die beiden Effekte auf das Volkseinkommen sogar gegenseitig verstärken. Sowohl die IS- als auch die LM-Kurve verschiebt sich nach rechts, die staatliche Ausgabenoffensive führt zu einem noch größeren BIP, ohne wesentliche Auswirkung auf das Zinsniveau.
Der Liberalismus schlägt zurück!
Während in den ersten drei Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg Keynesianismus und Sozialstaat auf breiter Front auf dem Vormarsch waren, gelang es den Neoliberalen ab den 1980er Jahren verlorenes Terrain wieder gutzumachen – insbesondere, aber nicht nur, in der angelsächsischen Welt. Schlagwörter wie Thatcherismus und Reagonomics sind direkt mit Hayek und Friedman verbunden, nicht zuletzt, weil Hayek die britische Premierministerin Margaret Thatcher und Friedman den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan bei ihren jeweiligen Reformprogrammen berieten.

Beide Initiativen zielten darauf ab mit Steuersenkungen und marktliberalen Korrekturen die im Windschatten des Keynesianismus entstandenen umfangreichen Sozialstaatmodelle wieder abzubauen. Seit der Jahrtausendwende hat die neoliberale Gegenbewegung – späte Genugtuung für David Ricardo – zudem zahlreiche internationale Freihandelsabkommen initiiert.
Ein Rad, das, wie wir wissen, der aktuelle Präsident der Vereinigten Staaten – im fundamentalen Gegensatz – zu seinem Vorgänger und Parteifreund Reagan gerade zurückdrehen möchte.
Ist es wirklich so einfach?
Trotz ihres großen praktischen Einflusses beruhen die beiden großen makroökonomischen Theorien des 20. Jahrhunderts auf erstaunlich einfachen und idealisierenden Annahmen. Können Unternehmer und Haushalte, die für die Zukunft schwarzsehen, mit niedrigeren Zinsen tatsächlich zu Investitionen bewegt werden? Würden Banken in Zeiten, in denen die Sicherheiten ihrer Kunden massiv an Wert verloren haben, noch Kredite vergeben? Ist eine freie Marktpreisbildung für Zinsen überhaupt möglich, wenn die Zentralbanken die Leitzinsen willkürlich festlegen können?

Wie realistisch ist die Annahme einer konstanten Umlaufgeschwindigkeit des Geldes?[v] Können die Zentralbanken die Geldmenge tatsächlich steuern, wenn im wesentlichen Geschäftsbanken, Unternehmen und Haushalte entscheiden welcher Teil davon in den Güterkreislauf gelangt?
Von einer umfassenden und allgemein akzeptierten Konjunkturtheorie ist die ökonomische Wissenschaft heute nach wie vor noch ein ganzes Stück entfernt. Die grundlegenden volkswirtschaftlichen Theorien des 20. Jahrhunderts, so erfolgreich ihre praktische Anwendung bisher auch gewesen sein mag, stehen auf recht tönernen Füßen.
Wer mehr wissen will:
Hayek, Friedrich von (1945): „The Use of Knowledge in Society” in: The American Economic Review, Band 35, Nr. 4.
Hayek, Friedrich von (1981): „Preise und Produktion“, Philosophia-Verlag.
Samuelson, Paul A. ; Nordhaus William D. (2010): „Volkswirtschaftslehre“, Mi-Wirtschaftsbuch.
[i] Vgl. Hayek (1945) S.526-527.
[ii] Hayek hätte wohl auch in der US-Hypotheken-Blase, die zur Finanzkrise von 2007 führte, das Muster der 1920er Jahre wiedererkannt. In beiden Fällen hatten sich Millionen Haushalte in den USA infolge der Niedrigzinspolitik der amerikanischen Zentralbank mit Hypothekenkrediten verschuldet und konnten, als die Zinsen wieder stiegen, ihre Schulden nicht mehr bedienen.
[iii] Friedman selbst fasste dies 1965 in dem bekannten Zitat zusammen: „Wir sind alle Keynesianer“.
[iv] Wirklich unabhängige Zentralbanken finden sich heute tendenziell am ehesten in historisch protestantisch geprägten Ländern.
[v] Tatsächlich haben sich die durch FED und EZB jeweils in Umlauf gebrachten Geldmengen zwischen 2000 und 2020 ungefähr verdreifacht, ohne dass es in den USA oder der EU zu einer nennenswerten Inflation gekommen wäre. Möglich ist dies, weil es zahlreiche Transaktionen gibt – etwa Zahlungen innerhalb des Bankensystems oder der Kauf von Aktien durch die Haushalte – die nicht in die Berechnung der BIP einfließen.
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