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Der Aufstieg des Kapitals


Aufbruch in ein neues Zeitalter

Als der englische Fabrikant Abraham Darby in Coalbrookdale Anfang des 18. Jahrhunderts die Befeuerung seiner Eisenhütte von Holzkohle auf Steinkohle umstellt, ist ihm nicht bewusst, dass er damit das Tor zu einem neuen Zeitalter aufstößt.

Bild eines kleinen Ortes bei Nacht mit dramatischem Feuerschein
Coalbrookdale bei Nacht

Der fossile Energieträger – seit Jahrmillionen gespeicherte Sonnenenergie – ist dreimal so effizient, die Kosten der Eisenherstellung sinken deutlich. Doch der Steinkohleabbau hat ein neues Problem geschaffen: In die tiefen Förderschächte dringt Grundwasser ein. Thomas Newcomen (1663-1729) entwickelt daraufhin eine mit Dampf betriebene Maschine, mit der sich das Wasser abpumpen lässt. In jahrzehntelanger Arbeit verbessert der Schotte James Watt (1736-1819) die Kraftmaschine weiter, bis er schließlich eine Verdreifachung ihrer Effizienz erreicht.


Portrait von James Watt - vor ihm ein Plan der Maschine
Nicht ihr Erfinder - aber er verschaffte der neuen Kraftmaschine den entscheidenden Durchbruch: James Watt

Schon bald zeigt sich, dass sich damit nicht nur Bergwerke trocken halten lassen: 1804 stellt der Engländer Richard Trevithick die erste funktionstüchtige Dampflokomotive vor; drei Jahre später konstruiert der Amerikaner Robert Fulton das erste brauchbare Dampfschiff.

Die Extraktion urzeitlichen Karbons zur Befeuerung neuzeitlicher Maschinen ist der tiefste Einschnitt in die Menschheitsgeschichte seit Beginn des Neolithikums. Seit 12.000 Jahren basieren die Ökonomien aller sesshaften Gesellschaften auf Landwirtschaft, die Energieerzeugung fast ausschließlich auf menschlicher und tierischer Muskelkraft. Die fossilen Brennstoffe verändern nun alles. Die neue Energiequelle wirkt sich zunächst unmittelbar nur auf das Leben eines kleinen Teils der Weltbevölkerung aus; die mittelbaren Folgen aber werden schon bald überall auf der Erde zu spüren sein.


Warum England?


Historischer Farbstich von Watts Dampfmaschine
Watts Maschine: Fortschritt war nun nicht mehr von menschlicher oder tierischer Muskelkraft abhängig

Dass die Industrielle Revolution ihren Ausgang in Großbritannien nimmt, ist kein Zufall. Das Land vereint eine Reihe einzigartiger Voraussetzungen: Eine gebildete Elite, die wissenschaftliches Denken fördert und im Bereich der Mechanik eine Reihe bahnbrechender Innovationen hervorbringt; ein durch strenge puritanische Ethik geprägtes Unternehmertum; weitgehende Abwesenheit absolutistischen Denkens; eine privilegierte Insellage in der Nähe des Kontinents, die das Land einerseits vor Invasionen schützt und es so ermöglicht, Kriege statt im eigenen Land, auf fremden Territorien auszutragen, und die andererseits enge Handelsbeziehungen mit den europäischen Nachbarn erlaubt; eine besondere Geographie, bei der die tief eingeschnittenen Buchten zahlreiche natürliche Häfen bieten und dafür sorgen, dass kein Ort mehr als 113 km von der Küste entfernt liegt; eine mächtige Flotte, die den Überseehandel wirkungsvoll zu schützen vermag; weltumspannende Handelsbeziehungen, über die zahlreiche Rohstoffe aus den Kolonien in das Mutterland gelangen und nicht zuletzt ein Überschuss an Arbeitskräften, mechanischer Energie und Kapital, um die Rohstoffe zu verarbeiten.


Massenmärkte und Menschenmassen

Die neue Zeit transformiert nicht nur Materie, sondern auch die Gesellschaft. Der schottische Philosoph Adam Smith analysiert die entstehenden Massenmärkte und stellt fest, dass weder Protektionismus noch kriegerische Eroberungen den Reichtum einer Nation mehren, sondern Fleiß, individuelle Freiheit und Rechtssicherheit. Entfernungen schrumpfen, Feldfrüchte werden zu landwirtschaftlichen Produkten, Stahl und Textilien zu billigen Gebrauchsgütern. Informationen, die bisher höchstens mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes oder eines schnittigen Segelschiffs übermittelt werden konnten, verbreiten sich dank der Telegraphie seit den 1840er Jahren im rasendem Tempo.

Der moderne Kapitalismus, der sich nun rasch in den Staaten des nördlichen Atlantik ausbreitet, bringt allerdings keineswegs Wohlstand für alle. Kleinbauern können nicht mehr mit industrialisierten Landwirtschaftsbetrieben konkurrieren; Handwerker verlieren mit den letzten mittelalterlichen Privilegien auch ihren sozialen Status. Die Arbeiter beherrschen nun nicht mehr das Werkzeug – das Werkzeug beherrscht sie. Diese Entwicklung lässt weite Teile der Bevölkerung verelenden. Intellektuelle wie Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx, Friedrich Engels oder Ferdinand Lassalle verleihen den besitzlosen proletarischen Massen des 19. Jahrhunderts eine Stimme. Ihre Ideen speisen sich aus den Idealen der Französischen Revolution und Hegels Geschichtsphilosophie, deren idealistischer Ansatz allerdings durch eine konsequent materielle Betrachtungsweise ersetzt wird. Das Ziel ist eine grundlegende Veränderung der Macht- und Einkommensverhältnisse.


Elend und die Diktatur der Uhr

Ein nicht geringer Teil des Elends ist auch dem rasanten Bevölkerungswachstum Europas geschuldet. Zwischen 1800 und 1900 steigt die Zahl der Menschen von 170 Millionen auf 400 Millionen – mehr als doppelt so schnell wie im Rest der Welt. Bevölkerungsdruck und Armut führen dazu, dass Millionen Europäer ihre Heimat verlassen und ihr Glück in der Neuen Welt suchen. Die entstehenden Ballungszentren der alten und der neuen Welt verbindet schon bald ein Netz von Eisenbahnlinien. Was zu Zeiten der Pferdekutsche niemand wahrnehmen konnte, wird nun zum Problem: Jede Stadt hat ihre eigene, nach der Sonne gestellte Zeit. Die Einführung von Fahrplänen erzwingt die Gleichschaltung aller Uhren. 1880 wird die ursprünglich nur für den Schienenverkehr gedachte Bahnzeit in England zur nationalen Standardzeit; Deutschland folgt 1893. Die Diktatur der Pünktlichkeit erfasst die gesamte Industriegesellschaft: Fahrpläne, Stechuhren, Maschinenrhythmen, Werksirenen und Pausenklingeln geben den Menschen jetzt den Takt vor.


Der Aufstieg der Hygiene

Die ungeheure Verdichtung des menschlichen Zusammenlebens führt immer öfter zu Seuchen. Jede einzelne der fünf Cholera-Pandemien, die das 19. Jahrhundert begleiten, tötet weltweit mehrere Millionen Menschen. Mediziner, wie der Brite John Snow, der Ungar Ignaz Semmelweis, der Franzose Louis Pasteur und der Deutsche Robert Koch analysieren Verbreitungswege von Krankheiten, entdecken Erreger und entwickeln Impfstoffe. Das Wissen um die Konsequenzen verseuchten Trinkwassers und mangelhafter Hygiene erlaubt es, die Ursachen wirkungsvoll zu bekämpfen. Die Cholera-Epidemie, die 1892 Hamburg heimsucht und fast 9.000 Tote fordert, ist die letzte in Deutschland. Überall in Europa wird massiv in die Bekämpfung von Infektionskrankheiten investiert. Elendsviertel und Altstädte werden abgerissen, Hygieneinstitute gegründet, Kanalisationen eingerichtet und Trinkwasserleitungen saniert. Die weltweite Kommerzialisierung des Schmerzmittels Aspirin ab dem Jahre 1899 steht exemplarisch für den Aufstieg der neuen chemisch-pharmazeutischen Industrie.

historischer Stich in Hamburg wird während der Epedemie von 1892 abgekochtes Wasser verteilt
Hygienestandards sorgen dafür, dass die katastrophalen Infektionskrankheiten langsam verschwinden

In Paris, London oder Berlin, wo vor kurzem noch verwinkelte, enge, dunkle Gassen von krummen Fachwerkhäusern gesäumt wurden, stehen nun die Gebäude der Gründerzeit entlang schnurgerader, breiter Prachtstraßen Spalier, während in den weniger guten Wohngegenden Mietskasernen das Stadtbild prägen. Die schöpferische Zerstörung des Kapitalismus hat die letzten Erinnerungen an das Mittelalter getilgt.


Der Kapitalismus verdrängt den Feudalismus...

In den vor allem von nordeuropäischen Einwanderern geprägten USA steht ein sich rasch industrialisierender Norden einem weitaus weniger dynamischen Süden gegenüber. Die Ökonomie des Südens beruht vor allem auf einer Landwirtschaft, in der ein Großteil der Arbeit noch immer von Sklaven geleistet wird, deren niedrige Arbeitskosten einer Mechanisierung und Modernisierung entgegenwirken.


Kolorierte Schlachtenszene aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg
Für Marx der ein "schlagender" Beweis der Richtigkeit seiner Theorie: Der Kapitalismus zerquetscht den Feudalismus

Als 1860 in dem zwischen Kapitalismus und Feudalismus gespaltenen Land der Republikaner Abraham Lincoln (1809-1865), ein Gegner der Sklaverei, zum Präsidenten gewählt wird, kommt es zum Bruch. Elf Südstaaten erkennen Lincolns Wahlsieg nicht an und treten aus der Union aus. Der folgende Amerikanische Bürgerkrieg ist der erste industrialisierte Konflikt – Maschinengewehre, Stacheldraht, Panzerschiffe, U-Boote und Eisenbahn kommen zum Einsatz. Mit einiger Mühe besiegt der bevölkerungs- und kapitalreiche Norden den rückständigen Süden und beendet die Sklaverei. Die Union bleibt erhalten; aus dem Staatenbund wird eine Nation, in dem sich der Süden neu orientieren und modernisieren muss. So gehen die USA aus dem Sezessionskrieg letztlich gestärkt hervor; der Krieg wird zum Geburtshelfer einer künftigen Weltmacht. Für den aufmerksamen Beobachter Karl Marx ist der nordamerikanische Konflikt die Bestätigung der von ihm vorhergesagten zwangsläufigen geschichtlichen Entwicklung: Der Kapitalismus muss den Feudalismus verdrängen, um sich selbst ausbreiten zu können.


...allerdings nicht in Lateinamerika

Mittel- und Südamerika, deren Oberschichten überwiegend aus eingewanderten Spaniern, Portugiesen und Italienern bestehen, gehen einen anderen Weg. So wie wenige Jahrzehnte zuvor die USA, erstreiten sich zwischen 1809 und 1825 zwar auch die spanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit – zentrale Figur dieser Revolutionen ist Simón Bolívar (1783-1830), ein glühender Bewunderer der nordamerikanischen Demokratie. Allerdings zerfällt die von ihm gegründete Republik Großkolumbien schon bald nach seinem Tod in die Staaten Kolumbien, Venezuela und Ecuador.


Gemälde von Bolivar in heroischer Pose auf einem Schimmel
Wollte der lateinische George Washington werden - und scheiterte: Simon Bolivar

In Brasilien wird sich die 1820 vom portugiesischen Königshaus eingesetzte kaiserliche Monarchie noch fast 70 Jahre lang behaupten und das Land vor jeder Form von Modernität bewahren. Erst 1888 schafft Brasilien als letztes westliches Land die Sklaverei ab; ein Jahr später stürzt das durch die positivistische Lehre Auguste Comtes beeinflusste Militär den Kaiser; nun wird auch Brasilien eine Republik.

Trotz hoffnungsvoller Anfänge verfehlen die jungen Republiken südlich des Rio Grande den Übergang zu einer pluralistischen, auf Wettbewerb und Rechtsstaatlichkeit basierenden Gesellschaftsordnung. Bürgerliche Entwicklungen, die sich mit denen Englands, der Vereinigten Staaten oder Frankreichs vergleichen ließen, werden von korrupten Oligarchen-Eliten verhindert. Institutionen, die die Privilegien der herrschenden Klasse einschränken, kontrollieren oder gar abschaffen könnten, können sich nicht etablieren. Die Machthaber agieren im Wesentlichen wie mittelalterlicher Feudaladel und konzentrieren sich darauf, Gewinne aus den Rohstoffen und Agrarprodukten ihrer Länder zu ziehen. Damit bleiben die dynamischen Kräfte dauerhaft gelähmt; wissenschaftliches Denken und unternehmerische Konkurrenz können sich kaum entwickeln. Anders als in Norden entscheidet in Lateinamerika die autokratisch-feudalistische Oberschicht den Machtkampf gegen die bürgerlich-liberale Elite für sich.[i] 



Anmerkungen

[i] Vgl. Acemoglu / Robinson (2013) S. 116-121.


 

Wer mehr wissen will:

 Acemoglu, Daron / Robinson, James A. (2014): „Warum Nationen scheitern“, Fischer.

Marx, Karl (1979): „Das Kapital“, Dietz. 



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