Eine neue Zeit bricht an
Am 29. Mai 1453 erstürmen die Janitscharen des türkischen Sultans Mehmed II die Mauern von Konstantinopel und beenden damit die Geschichte des Oströmischen Reichs. Etwa zur gleichen Zeit druckt Johannes Gutenberg in Mainz die ersten Bibeln mit beweglichen Metalllettern. In den folgenden Jahrzehnten wird Christoph Kolumbus Amerika entdecken, Nikolaus Kopernikus das Ptolemäische Weltbild stürzen und Martin Luther seine 95 Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg schlagen. Die Kleine Eiszeit beendet eine spätmittelalterliche Wärmeperiode; das Klima der kommenden vier Jahrhunderte wird deutlich kälter sein.
Jedes dieser Ereignisse löst weitere Veränderungen aus, ein Geflecht von Kausalitäten und Wechselwirkungen, aus denen nun innerhalb kurzer Zeit in Europa die moderne Welt entsteht. Die byzantinische Elite flieht nach Westen, zumeist in die reichen Städte Oberitaliens, in ihrem Gepäck viele der im Abendland vergessenen Schriften des Altertums. Der Wissenstransfer beflügelt die Renaissance, deren Einfluss sich von Oberitalien aus rasch in ganz Europa verbreitet. Die Wiederentdeckung der Weisheit der Antike ist der Funke, der das Feuer der Moderne entfacht. Die Europäer beginnen zum zweiten Mal, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Vermeintlich absolute Gewissheiten werden erschüttert. Da Veränderungen von einer Generation zur nächsten nun erstmals für alle wahrnehmbar sind, dringt so etwas wie Geschichtlichkeit ins Bewusstsein. Es entsteht die Vorstellung, dass sich die Menschheit in einem dynamischen Entwicklungsprozess befindet.
Humanismus und viele Bücher
Das neue Ideal heißt Bildung und niemand verkörpert es mehr als Erasmus von Rotterdam (ca.1467-1536). Der Humanist ist überzeugt, dass sich nicht nur Mönche und Gelehrte, sondern alle Menschen durch Wissen und Selbstreflektion verwirklichen können. Als überaus hilfreich bei der Erfüllung dieses großen Ziels erweist sich Gutenbergs Druckerpresse – eine Erfindung, die Victor Hugo später als „das größte Ereignis der Weltgeschichte“ bezeichnen wird. Erasmus‘ Freund, der italienische Verleger Aldo Manuzio, erfindet das billige Taschenbuch samt einer dazu passenden Kursivschrift, mit der sich noch mehr Text auf einer Seite unterbringen lässt. Verlegt werden die Werke von Aristoteles, Platon, Homer, Sophokles und Herodot. Bildung durch Druckschriften wird zu einem Massenphänomen: Um 1500 gibt es in Europa bereits über 10 Millionen Bücher; zweihundert Jahre später wird sich diese Zahl verfünfzigfacht haben.
Insbesondere in Deutschland verbreiten die Druckerpressen nicht nur antike Gedanken. Zahlreiche Landesfürsten folgen Martin Luthers Aufruf „An den christlichen Adel deutscher Nation“, die Kirche zu reformieren.[i] „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ formuliert die Idee, dass die Menschen wahre Freiheit nicht durch gute Taten, sondern allein durch das Wort Gottes und aufrichtigen Glauben erlangen können.
Luthers Ideen rütteln an den Grundfesten jener Institution, die seit 1.000 Jahren die europäischen Gesellschaften stabilisiert. Der Reformator ist populär, nicht zuletzt, weil er in verständlichem Deutsch schreibt und dabei „dem Volk aufs Maul schaut“. Diesem Stil bleibt Luther treu, als er 1521 in nur elf Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen übersetzt und damit fast nebenbei die Grundlage der modernen hochdeutschen Sprache legt.
Die Freiheiten, die Erasmus und Luther fordern, sind Ausdruck eines neuen Zeitgeistes. Der Mensch der Renaissance entdeckt sich selbst als Individuum. Er betrachtet sich im Spiegel, beginnt sich für seine eigene Identität zu interessieren. Künstler wie Albrecht Dürer oder Leonardo da Vinci bringen das neue Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Sie gehören zu den Ersten, die von sich Selbstportraits anfertigen, ein Antike und Mittelalter gänzlich unbekanntes Genre.[ii] Das neue Bildungsideal erschöpft sich schon bald nicht mehr nur in der Kenntnis klassischer Autoren. Der unerhörte Gedanke kommt auf, dass Platons und Aristoteles‘ Werke möglicherweise nicht der Weisheit letzter Schluss sind, sondern dass sich selbst das Wissen der antiken Titanen noch mehren lässt. Konkret bedeutet dies vor allem, die Natur zu verstehen. Nikolaus Kopernikus stellt das alte Weltbild vom Kopf auf die Füße; wissenschaftliches Denken beginnt das Welterklärungsmonopol der Religion zu zersetzen. Naturverständnis verlangt nach einer mathematischen Beschreibung der zugrundeliegenden Muster. Das indische Dezimalsystem, die arabische Algebra und die griechische Geometrie, popularisiert von Adam Ries und Robert Recorde, verleihen dem Weltbeschreibungswerkzeug Mathematik nun eine enorme Durchschlagskraft. Euklids wiederentdeckte „Elemente“ werden zu dem nach der Bibel am häufigsten gedruckten Buch.
Entdecker und Eroberer
Die Europäer entdecken die Welt nicht nur im übertragenen, sondern auch im ganz wörtlichen Sinne. Die Portugiesen umfahren Afrika und finden einen Seeweg nach Indien. Die neue Route schaltet sämtliche bisherigen Zwischenhändler entlang der Seidenstraße aus, die Gewinne aus dem neuen Indienhandel sind phänomenal. Noch mehr Profit verspricht eine erhoffte Abkürzung über den westlichen Seeweg. Die Bardi-Bankiers finanzieren die waghalsige Expedition des Kolumbus. Es wird noch eine Weile dauern, bis alle erkennen, dass der Genuese nicht Indien, sondern eine ganze Neue Welt entdeckt hat. 1507 zeichnet der Freiburger Kartograph Martin Waldseemüller die erste Weltkarte, die neben Afrika und Asien auch den gigantischen neuen Doppelkontinent zeigt. Die Schiffe des Portugiesen Ferdinand Magellan sind die ersten, die zwischen 1519 und 1522 den ganzen Erdkreis umrunden.
Selbstbewusstsein und Neugier der Kaufleute stehen dem der Humanisten, Künstler, Naturphilosophen und Seefahrer in nichts nach. Wer bereit ist, Risiken einzugehen, kann phantastischen Reichtum erlangen. Im Westen gilt es die Neue Welt auszubeuten; im Osten Handelsbeziehungen mit Indien, China und Japan zu vertiefen; zu Hause versprechen vor allem Bergbau und Tuchindustrie Profit. Um in dem Wirrwarr aus Beständen, Forderungen, Verbindlichkeiten, Eigen- und Fremdkapital, Aufwendungen und Einnahmen den Überblick zu behalten, bedürfen die Frühkapitalisten eines neuen Werkzeugs. Liefern wird es der italienische Mönch und Mathematiker Luca Pacioli in Form des Systems der doppelten Buchhaltung.
Kaufmannsdynastien, wie die Augsburger Fugger und Welser, machen Politik, indem sie mit ihren gigantischen Vermögen die Wahl des Habsburgers Karl V zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches finanzieren.[iii] Oftmals erleben die Bankiers dabei, dass sie Kredite, die sie Päpsten, Kaisern und Königen gewähren, nie wiedersehen, während Investitionen in das eigene Geschäft, aber auch in Wissenschaft und Kunst auf Dauer hohe Rentabilitäten versprechen.
Europa erobert eine ganze Neue Welt
Auf staatlicher Ebene gehören vor allem Spanien und Portugal zu den Gewinnern. Die Seefahrernationen errichten in Amerika und im Fernen Osten riesige Kolonialreiche. Dabei gehen sie mit machiavellistischer Kaltblütigkeit vor. Der spanische Abenteurer Hernán Cortés erobert 1519-1521 mit einigen hundert Konquistadoren und viel diplomatischem Geschick in Mexiko das Reich der Azteken – der Herrscher Moctezuma kommt dabei unter ungeklärten Umständen zu Tode. Elf Jahre später zerschlägt sein Landsmann Francisco Pizarro mit einem Haufen von nicht einmal 170 Glücksrittern die 80.000-köpfige Armee des mächtigen Inkareichs. Pizarro nimmt den Herrscher Atahualpa gefangen und lässt ihn später trotz Zahlung eines Lösegelds ermorden. Die indianischen Ureinwohner werden von den iberischen Eroberern nicht nur rücksichtslos ausgebeutet, sondern auch mit eingeschleppten Seuchen infiziert, gegen die die indigene Bevölkerung keine Resistenzen entwickeln konnte und denen daher gebietsweise bis zu 90 % der Eingeborenen zum Opfer fallen.[iv] Um die Arbeitskraftverluste in den Plantagen und Minen auszugleichen, werden zahllose Afrikaner als Sklaven in die Neue Welt verschleppt. Allein die Portugiesen verbringen insgesamt rund drei Millionen Menschen gewaltsam nach Brasilien.
Die Große Divergenz
Die erstaunliche Dynamik, die Europa entfacht, führt dazu, dass sich der kleine Kontinent wissenschaftlich, technologisch, ökonomisch und ideengeschichtlich mehr und mehr vom Rest der Welt absetzt. Lagen zu Beginn der Neuzeit andere eurasische Mächte wie das Osmanische Reich, Russland, das Reich der indischen Moguln, China und Japan wirtschaftlich und kulturell mit dem Abendland gleichauf oder waren ihm in einigen Bereichen sogar voraus, macht sich ab dem späten 16. Jahrhundert zunehmend die „Große Divergenz“ bemerkbar.
Erneut stellt sich die Frage nach den tieferen Ursachen dieser unterschiedlichen Entwicklungen. Die Gründe, warum Moctezuma oder Atahualpa nicht einige hundert Krieger auf die Iberische Halbinsel schicken und die Könige von Spanien und Portugal gefangen nehmen, liegen auf der Hand: Sie verfügen weder über seetüchtige Schiffe und Kenntnisse der Navigation noch über Waffen aus Stahl, Kanonen, Schießpulver, Pferde oder ausgeklügelte militärische oder diplomatische Strategien. Ihre technologische und politische Entwicklung ist aus geographischen, klimatischen und rein zufälligen Gründen deutlich langsamer verlaufen als in Eurasien.[v]
Warum scheitern die eurasischen Konkurrenten?
Die Frage, warum sich am Beginn der Neuzeit keiner der eurasischen Konkurrenten zur dominanten Macht aufschwingt, ist wesentlich schwieriger zu beantworten. Betrachtet man jedoch die gesellschaftliche Verfassung der potentiellen Anwärter, zeigt sich, dass in allen Fällen eine Reihe entscheidender Faktoren den Fortschritt hemmen.
Die Chinesen der Ming-Dynastie unternehmen bereits 100 Jahre vor den Spaniern und Portugiesen große Übersee-Expeditionen. Admiral Zheng He reist zwischen 1405 und 1433 mehrfach mit einer Flotte von Dschunken, gegenüber denen sich die iberischen Schiffe wie Nussschalen ausnehmen, bis an die afrikanische Ostküste. Aus dem Reich der Mitte kommen zudem wichtige Innovationen, wie Schießpulver, Kanonen, der Kompass oder der Holztafel-Buchdruck. Doch China schlägt aus alldem kein Kapital.
Das befriedete zentralistische Riesenreich mit seiner konservativen konfuzianischen Staatsphilosophie kennt weder militärische Konflikte, die einen Einsatz von Feuerwaffen nötig machen würden, noch verspürt es einen Expansionsdrang, der zu einem regelmäßigen Handel mit Ostafrika oder gar der Gründung von Kolonien führen könnte. Zudem besiegeln 1644 die aus dem Norden eingefallenen Mandschus das Ende der Ming-Dynastie; die Begründer der neuen Qing-Dynastie werden von den Chinesen als Fremdherrscher empfunden – keine gute Voraussetzung, um zu einer globalen Macht aufzusteigen.
Japan ist um 1500 außenpolitisch isoliert, nicht zuletzt, weil China wegen wiederholter Piratenüberfälle den Handel mit dem aggressiven Nachbarn verbietet. Innenpolitisch ist das Inselreich seit Jahrhunderten in endlose feudalistische Fehden verstrickt. Den 1543 auftauchenden portugiesischen Kaufleuten, fällt es daher zunächst nicht schwer, in dem zerstrittenen Land Fuß zu fassen und ihre wichtigsten Exportartikel – Christentum und Feuerwaffen – zu verbreiten. Das Interesse der Bürgerkriegsparteien gilt dabei weniger der neuen Religion, als der neuen Technologie, so dass die japanischen Waffenschmiede bereits nach einem Jahr in der Lage sind, die Luntenschloss-Musketen der Portugiesen perfekt nachzubauen. Die Situation ändert sich erst, als um 1600 der Shogun Tokugawa Ieyasu in den internen Konflikten die Oberhand gewinnt. In der nun beginnenden Edo-Zeit lassen Tokugawa und seine Nachfolger japanische Christen und europäische Missionare und Händler ermorden oder aus dem Land jagen.
Um ihre Machtposition weiter abzusichern, verbieten die Tokugawa-Herrscher ihren Untertanen den Bau hochseetüchtiger Schiffe sowie Reisen ins Ausland. Die Anzahl der in Umlauf befindlichen Feuerwaffen wird streng kontrolliert. Japan ist nun zwar befriedet, doch das Land hat sich in eine freiwillige Isolation begeben, in der es 250 Jahre lang verharren wird.
Russland, dessen politisches Zentrum sich mittlerweile von Kiew nach Moskau verschoben hat, sieht sich nach dem Fall Konstantinopels als Erbe des untergegangenen Byzantinischen Reichs. In den Augen der Russen ist Moskau das „Dritte Rom“. Rund 110 Jahre nach den Chinesen gelingt es auch dem Großfürsten Iwan III (1440-1505) im Jahre 1480 die Mongolenherrschaft endgültig abzuschütteln. Unter dem Namen „Iwan der Große“ nimmt er den kaiserlichen Titel „Zar“ und „Bewahrer des byzantinischen Throns“ an. Damit begründet er die Rolle Russlands als Großmacht, eine Ambition, die sein Enkel Iwan IV, genannt der Schreckliche (1530-1584), konsequent weiterverfolgt. Wie in China und Japan wirken auch in Russland starke zentralistische Kräfte. Neue Technologien und Ideen, sofern sie nicht dem Erhalt der eigenen Herrschaft dienen, werden konsequent bekämpft. Ein auf Leibeigenschaft beruhender Feudalismus, eine ineffiziente und korrupte Verwaltung, das Erziehungsmonopol der orthodoxen Kirche und eine staatlich erzwungene Ghettoisierung von Ausländern, hemmen eine rasche Entwicklung des Landes
Zu den Technologien, die autokratisch-zentralistischen Großreichen grundsätzlich suspekt sind, zählt insbesondere auch Gutenbergs Buchdruck. Wie China und Japan kennen auch Türken, Araber und das Mogulreich seit langem das Blockdruckverfahren mit Holztafeln, das allerdings fast nur zur Herstellung von Gebetstexten benutzt wird. Als der türkische Sultan Bayezid II, Sohn des Eroberers von Konstantinopel, 1483 das Drucken arabischer Schriftzeichen mit beweglichen Lettern bei Todesstrafe verbietet, beraubt das Osmanische Reich, die Führungsmacht der islamischen Welt, sich dauerhaft der Möglichkeit, vorhandenes Wissen und neue Ideen rasch verbreiten zu können.
Den türkischen, russischen, indischen, chinesischen und japanischen Imperien ist gemein, dass ihre Machthaber Neuerungen, die ihren Interessen nicht dienlich sind, effektiv verhindern können.[vi] Die Wirtschaft wird staatlich reglementiert, ein Wettbewerb um die besten Köpfe und Ideen findet nicht statt; Profit- und Effizienzdenken bleibt den durch Islam, Orthodoxie, Konfuzianismus oder Bushidō geprägten Menschen weitgehend fremd. Fürstenwillkür, Religion und konservative Staatsphilosophien halten die Gesellschaften in Osteuropa und Asien in einem vergleichsweise statischen Zustand.
Der Aufstieg Europas: Was sind die Erfolgsrezepte?
Warum aber kommt es im Westen Europas nicht zu ähnlichen Blockaden? Weshalb können sich hier Buchdruck, Seefahrt, Feuerwaffen und politische Systeme kontinuierlich weiterentwickeln und einfache Bürger reicher werden als die Potentaten? Ein erster Erklärungsansatz ist einmal mehr die Geographie. Der Golfstrom sorgt in der Westhälfte des Kontinents für ein mildes Klima. Der winzige, ausgefranste Wurmfortsatz Asiens ist überall von Wasser umgeben und verfügt über zahlreiche Gebirge, Wälder, Flüsse und Klimazonen, die als natürliche Barrieren Invasionen von außen erschweren. Hunnen, Araber, Ungarn und Mongolen können zwar in den flachen Steppen und Wüsten Asiens und Nordafrikas riesige Reiche errichten, doch ihre europäischen Eroberungsversuche scheitern nicht zuletzt auch an der schwierigen Topographie des kleinen Kontinents.
So vielfältig wie seine Landstriche, ist auch die politische Gliederung Europas. Zahlreiche Mächte koexistieren und konkurrieren auf engstem Raum. Keiner Macht – nach Römern und Franken werden es noch die Habsburger, Franzosen, Engländer und Deutschen versuchen – wird es gelingen, eine dauerhafte Vormachtstellung zu erringen. Der Flickenteppich aus Königreichen, Kurfürstentümern, Grafschaften, Marken, Republiken und freien Städten bietet vielfältige Bündnismöglichkeiten. Droht eine Partei die Hegemonie zu erlangen, schließen sich sofort mehrere kleinere Mächte zusammen, die dem Aggressor seine Grenzen aufzeigen.[vii]
Die allgegenwärtige Konkurrenz verhindert nicht nur politische, sondern auch ökonomische und technologische Monopole. Neuerungen im Bereich der Militärtechnik werden daher überall in Europa rasch adaptiert. Zwar gibt es auch hier Versuche, den Fortschritt zu hemmen. So bittet die europäische Ritterschaft bereits im Jahre 1139 den Papst, den Einsatz der Armbrust gegen Christen zu verbieten. Der Wunsch findet zwar das Gehör des Pontifex, beachtet aber wird der Bann zu keiner Zeit. Im 15. Jahrhundert unterscheiden sich die Kanonen Chinas, des Osmanischen Reiches und Europas noch in keiner Weise – großkalibrige, einfache Bombarden aus Bronze. Doch nur die Europäer experimentieren unablässig mit Gießverfahren, Kalibern, Projektilen, Pulvermischungen und Transportmöglichkeiten, so dass um 1700 die europäischen Geschütze mit ihren asiatischen Verwandten kaum noch etwas gemein haben.[viii]
Während im Westen der Wettbewerb um Waffensysteme, Logistik und Strategien zu ständigen Verbesserungen führt, verhindert fehlender Konkurrenzdruck in den zentralistischen Großreichen sämtliche Anreize, diese Bereiche weiterzuentwickeln.
Konkurrenz und die verschiedenen klimatischen und geologischen Bedingungen innerhalb Europas fördern eine regionale Arbeitsteilung. England, das günstige Voraussetzungen für die Schafzucht aufweist, dominiert die Tuchproduktion; das Erzgebirge, Tirol oder der Schwarzwald eigenen sich für den Bergbau; Südeuropa bietet hervorragende Bedingungen für den Anbau von Weizen und Wein. Spezialisierung und die damit verbundenen Kostenvorteile lassen den innereuropäischen Handel erblühen und ein vergleichsweise dichtes Straßennetz entstehen. Die schwer zu befahrenden Meere der europäischen Westküste erfordern die Konstruktion robuster, hochseetauglicher Schiffe. Mit den Waren reisen auch Wissen und neue Ideen. Die komplexen Handelsbeziehungen ziehen fortschrittliche Formen der Kreditwirtschaft nach sich, die ihrerseits wiederum nach Rechtssicherheit verlangen.
Wo sich stabile Verhältnisse etablieren und Risiken berechenbar werden, entsteht Wohlstand. Das feudalistische Establishment hat dem Tatendrang der neuen Kaste vermögender und selbstbewusster Kaufleute und Handwerker auf Dauer wenig entgegenzusetzen, denn die Menschen in Europa sind flexibel und mobil. Wer in den rückständigen ländlichen Gebieten für sich keine Zukunft sieht, zieht in die rasch wachsenden Städte; fordert ein Landesfürst zu hohe Wegezölle, wird sein Territorium von den Händlern gemieden; wer, wie die französischen Hugenotten, dem „falschen“ Glauben anhängt, wandert aus und lässt sich woanders nieder.
Anders als Adel und katholische Kirche weiß das neue Bürgertum die Erkenntnisse der rasch voranschreitenden Wissenschaftlichen Revolution für sich zu nutzen. Die aus dem Streben der frühkapitalistischen Unternehmer nach wirtschaftlicher Selbstbestimmung und reformatorischem Individualismus entstehende protestantische Ethik wird zur wohl bedeutsamsten Triebfeder der künftigen europäischen Entwicklung. Zugleich birgt die neue Allianz aus Wirtschaft und Religion auch den Keim eines innereuropäischen Bruchs: Der protestantische Norden wird sich von nun an rascher entwickeln als der katholische Süden.
Doch selbst wenn es in Europa damit fortan zwei Geschwindigkeiten gibt: Insgesamt zieht der kleine Erdteil dem Rest der Welt ab dem 16. Jahrhundert davon. Pluralismus, Wissensdurst, technologischer, politischer und gesellschaftlicher Wettbewerb, die rasche Verbreitung neuer Ideen, eine hohe soziale und geographische Mobilität, relative Toleranz, unternehmerische Freiheiten, wachsende Rechtssicherheit und nicht zuletzt der unbeschränkte Zugriff auf die Ressourcen der Neuen Welt sind die entscheidenden Gründe, warum das „Treibhaus“ Europa nun einen Weg geht, dem die eurasischen Konkurrenten nicht mehr zu folgen vermögen. Die Wurzeln dieses „Sonderwegs“ reichen bis in die griechisch-römische Antike.
Wer mehr wissen will:
Luther, Martin (1520): „Von der Freiheit eines Christenmenschen"
Kennedy, Paul (2000): „Aufstieg und Fall der großen Mächte“, Fischer.
Diamond, Jared (2006): „Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“, Fischer.
Anmerkungen:
[i] Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, der vorerst die friedliche Koexistenz von Katholiken und Protestanten in Deutschland regelt, galt, dass der Landesfürst seinen Untertanen die Konfession vorgibt (cuius regio, eius religio).
[ii] Dürer war zudem einer der ersten Künstler, die ihre Werke mit einem Monogramm signierten.
[iii] Das bilanzierte Vermögen von Jakob Fugger soll nach heutiger Kaufkraft etwa 400 Milliarden Dollar betragen haben, was ihn zum reichste Menschen alter Zeiten machen würde. (Das schafft nicht einmal Elon Musk, der es im Dezember 2024 nur auf schlappe 337 Milliarden Doller bringt.) Vgl. zu Fugger Ehrenberg (1921) S.118-119 und 386-389.
[iv] Im Gegensatz zu den Eurasiern konnte die amerikanische Urbevölkerung seit dem Neolithikum keine Resistenzen gegen ursprüngliche Tierseuchen wie Masern, Tuberkulose, Pocken, Grippe und Keuchhusten entwickeln. Allein die Pocken sollen schätzungsweise fünfzehn Millionen amerikanische Ureinwohner getötet haben. Vgl. Diamond (2001) S. 246-252.
[v] Vgl. Diamond (2001) S. 69-87.
[vi] Vgl. Kennedy (1996) S.68.
[vii] Vgl. Kennedy (1996) S. 54-55.
[viii] Nach 1725 verfügt das Osmanische Reich ebenfalls über eine bewegliche Feldartillerie, zu deren Aufbau es allerdings europäische Spezialisten anheuern musste - zumeist aus Ungarn.
Gefällt mir, nicht zuletzt wegen der Einbeziehung von China und Japan! Denn das Desinteresse dieser Mächte ist wesentlich für den Aufstieg Europas.