Schüler und Lehrer
Aristoteles war ein Schüler Platons. 384 v. Chr. in der nordgriechischen Stadt Stagira geboren, trat er mit siebzehn oder achtzehn Jahren in Platons Akademie ein, um sie erst 20 Jahre später, nach dem Tod seines Lehrmeisters um 348 v. Chr. wieder zu verlassen. Nach einer kurzen Episode als Lehrer des jungen makedonischen Thronfolgers Alexander, der später „der Große “ genannt werden würde, verbrachte er die folgenden Jahre an verschiedenen Orten Griechenlands mit ausgiebigen Naturstudien. Nach seinen Reisejahren kehrte Aristoteles um 335 v. Chr. nach Athen zurück. Hier gründete er im Hain des Lykeios seine eigene Schule, das Lyzeum. In den folgenden zwölf Jahren entstanden dort wahrscheinlich die meisten der von ihm überlieferten Werke, darunter auch viele der uns heute bekannten Zusammenfassungen vorsokratischer Lehren. Der größte Teil seines Werkes gilt jedoch als verloren. Das Erhaltene ist immerhin noch eindrucksvoll genug, um Aristoteles‘ Platz im Olymp der Philosophie zu sichern.
Aristoteles und das „Sein“
Aristoteles war das vielleicht erste uns bekannte Universalgenie. Er interessierte sich sprichwörtlich für alles und prägte so unterschiedliche Bereiche wie Philosophie, Theologie, Sprache, Astronomie, Geschichte, Politik , Ökonomie und Theater. Und anders als sein Meister beschäftigte er sich auch intensiv mit der Natur. Die Ideenlehre, den zentralen Gedanken seines Lehrers, lehnte er entschieden ab. Er sah in ihr nur „leere Worte und poetische Metaphern“. Aristoteles wollte den Dingen mit einem ganz anderen Ansatz auf den Grund gehen. Nicht im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt sollen wir die Wahrheit suchen. Wir müssen sehr genau hinschauen und das, was sich uns offenbart, so getreu und umfassend wie möglich beschreiben. Die Welt wird nicht durch abstrakte Prinzipien bestimmt, sondern durch die unzähligen Einzeldinge um uns herum. Um in diesem Tohuwabohu Klarheit zu schaffen, müssen wir die Welt ordnen, sie kategorisieren und katalogisieren. Aristoteles widmet sich dieser Ordnung ausführlich in seiner Metaphysik. Systematisch legt er darin zehn Kategorien fest, die nötig sind, um das Seiende zu bestimmen: Das Ding als solches; seine Größe oder Menge; seine Beschaffenheit; das, worauf es sich bezieht; der Ort, an dem es sich befindet; die Zeit, zu der es ist; seine Lage oder Position; das, was es hat; das, was es tut; das, was es erleidet.
Die Kategorien zwei bis zehn sind Akzidenzien, das heißt Eigenschaften des betrachteten Dings. Keine dieser Eigenschaften kann allein existieren und allesamt sind sie veränderlich. Die erste Kategorie hingegen, die Substanz, das „Ding an sich“, kann ihr Wesen nicht abschütteln oder verwandeln. Aristoteles unterzieht diese erste Kategorie einer eingehenden Betrachtung, bei der er verschiedene substantielle Ebenen unterscheidet. Die erste Substanz sind die konkreten, individuellen Erscheinungen eines Dings. Aristoteles nennt als Beispiele Sokrates und Bukephalos, das Pferd Alexanders des Großen. Die zweite Substanz ergibt sich aus den unveränderlichen Attributen der Ersten Substanz: Sokrates ist zweibeinig und vernunftbegabt; Bukephalos ist ein vierbeiniger Einhufer, der wiehert. Damit gehört Sokrates zu der Art „Mensch“ und Bukephalos zu der Art „Pferd“. Mensch und Pferd sind die Ebene der zweiten Substanz. Sie lassen sich wiederum zu einer noch allgemeineren dritten Substanz „Lebewesen“ zusammenfassen. Mit jedem Abstraktionsschritt entfernen wir uns von den konkreten Eigenschaften. So entstehen Hierarchien, mit denen sich die Dinge der Welt ordnen und beschreiben lassen. Anders als Platon konstruiert Aristoteles seine Ontologie also von unten nach oben – eine eindeutige Stellungnahme gegen die Ideenlehre seines Meisters.
Ein Meister der Logik
Doch wie lässt sich nun mit diesem System Wissen gewinnen? Wenn Sokrates ein Mensch ist und alle Menschen sterblich sind, folgt daraus, dass Sokrates sterblich ist. Der Syllogismus, auch als Deduktion bezeichnet, ist die Methode, die formal vom Allgemeinen auf das Besondere schließt.[i] Das Besondere, also dass auch Sokrates sterben muss, muss daher nicht noch einmal überprüft werden. Woher aber wissen wir, dass alle Menschen sterblich sind? Dies ergibt sich aus unserer Beobachtung: Wenn wir sehen, dass alle Menschen, die wir kennen, früher oder später das Zeitliche segnet, können wir daraus schließen, dass dies grundsätzlich für alle Menschen gilt. Diese Methode ist die Induktion, der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine.
Mit seinen Kategorien und den Regeln des systematischen Schlussfolgerns legte Aristoteles nicht weniger als die Grundlagen des empirisch-wissenschaftlichen Arbeitens und der Logik. Jahrelang sammelte und klassifizierte er Pflanzen und Tiere und schrieb die ersten uns bekannten Lehrbücher der Biologie. Darin ordnet er alle lebenden und toten Dinge nach den Kriterien „Blut oder kein Blut“, „Anzahl Beine“, „warm oder kalt“ „feucht oder trocken“ sowie „Komplexität der Seele“ (die im Gegensatz zu Platons Vorstellung sterblich ist). So ist der Mensch ein Lebewesen mit Blut, zwei Beinen, warm und feucht und einer Seele, die zusätzlich zu vegetativen und sensitiven Eigenschaften auch über einen Verstand verfügt. Eine Schlange hat Blut, keine Beine, ist kalt und feucht und ihre Seele ist lediglich mit vegetativen und sensitiven Teilen versehen. Eine Pflanze hat weder Blut noch Beine, ist kalt und trocken und nur mit einer rein vegetativen Seele ausgestattet. Mineralien verfügen über die gleichen Eigenschaften wie die Pflanzen, nur, dass sie keine Seele besitzen. Wie zuvor schon Anaximander vermutete auch Aristoteles aufgrund der bei seinen Naturstudien entdeckten anatomischen Analogien einen Entwicklungsprozess als Ursprung der Artenvielfalt.
Aristoteles metaphysische Schriften wurden erst nach seinem Tod zu verschiedenen Büchern zusammengestellt und durchnummeriert. Im ersten Buch zur Metaphysik geht Aristoteles dem Wesen des „Seienden“ nach, also der Frage, warum etwas „ist“ und warum es „so ist, wie es ist“. Für das, was existiert, gibt es vier Ursachen: Stoff, Form, Wirkung und Zweck. Das Holz, aus dem ein Tisch besteht, ist dessen stoffliche Kausalität. Seine konkrete Gestaltung ist die Formursache. Die Wirkungsursache ist der Schreiner, der ihn erschuf und der Zweck, ist der Grund, warum er geschaffen wurde – etwa um als Esstisch zu dienen. Aus dem Zusammenspiel dieser vier Ursachen ergibt sich das Seiende und die Veränderungen, die wir an ihm beobachten können.
Begnadeter Systematiker und Religionsphilosoph
Im sechsten Buch der Metaphysik stellt Aristoteles seine Einteilung der Wissenschaften vor. Dabei macht er drei grundlegende Unterscheidungen: Die theoretischen Disziplinen Metaphysik, Naturwissenschaften, Theologie und Mathematik bezeichnet er als die „kosmischen Angelegenheiten“. Sie betrachten ewige Wahrheiten und verfolgen keinen unmittelbaren Nutzen. Die praktischen Wissenschaften, die „menschlichen Angelegenheiten“, umfassen Ethik, Rhetorik und Politik. Sie sollen uns zu gutem, tugendsamem Handeln anleiten. Die „herstellenden Wissenschaften“ schließlich – zu ihnen zählen Handwerk, Medizin und Poetik – beschäftigen sich mit allem, das Nützliches hervorbringt.
Im zwölften Band beschreibt der Philosoph sein religiöses Weltbild. Der Ursprung alles Seienden ist nicht Platons Demiurg, sondern ein „unbewegter Erstbeweger“. Jede Bewegung, die wir beobachten können, hat eine andere Bewegung zur Ursache. Doch die Kausalkette aus Ursachen und Wirkungen muss irgendwo und irgendwann ihren Anfang genommen haben. Dieser Anfang ist der Erstbeweger, ein reines, körperloses Wesen, das über allen Dingen schwebt. Trotz unterschiedlicher Argumentationen legen Platon und Aristoteles hier gemeinsam die Grundlage, um den Monotheismus als logisch-metaphysisches Konzept zu begründen.
Ethik
Auch mit Fragen der Moral setzt sich Aristoteles auseinander. Sein bekanntestes Werk hierzu ist die Nikomachische Ethik (Es ist nicht klar, ob Aristoteles diese Ethik seinem Vater oder seinem Sohn gewidmet hat – beide hießen Nikomachos.) Wie bei Platon ist auch bei Aristoteles Ziel allen Philosophierens „Eudaimonia“, das Glück, das sich einstellt, wenn man ein gutes, sittliches Leben führt. Die hierfür nötigen Tugenden müssen allerdings erst entwickelt werden. Aristoteles‘ Tugendethik bedeutet in erste Linie, Affekte zu beherrschen, Extreme zu vermeiden und so das richtige Maß, die goldene Mitte zu finden. Die extremen Ränder der Tapferkeit etwa, sind Tollkühnheit und Feigheit. Ein Soldat, der blind sein Leben aufs Spiel setzt, weil er keine Angst spürt, handelt nicht tapfer, sondern verantwortungslos. Wirklich tugendhaft ist derjenige, der sich bewusst entscheidet und seine Feigheit überwindet. Anders als für Platon gibt es für Aristoteles keine absolut verbindlichen ethischen Normen oder Regeln. Was gut, was schlecht ist, hängt von den konkreten Umständen eines jeden Einzelfalls ab.
Der Meister und sein Meisterschüler
Mit Platon und Aristoteles erreicht die antike Philosophie ihren Höhepunkt. Der Meister und sein Meisterschüler haben das Feld nach seiner Länge und Breite abgesteckt und versucht, alle großen Fragen zu Gott und der Welt zu beantworten. Dabei sind zwei grundlegend verschiedene Sichtweisen deutlich geworden: Man kann entweder versuchen, die Wahrheit idealistisch rein mit Hilfe des Verstandes zu ergründen oder aber seiner konkreten sinnlichen Wahrnehmung vertrauen. Versinnbildlicht hat dies der Maler Raffael in seinem Anfang des 16. Jahrhunderts entstandenen Gemälde „Die Schule von Athen“. Alle Weisen Griechenlands sind hier versammelt. In der Mitte Platon, dessen rechte Hand nach oben weist und uns daran erinnern möchte, dass die wahren Ideale nicht von dieser Welt sind (nach Ansicht einiger Kunsthistoriker trägt Platon die Gesichtszüge Leonardo da Vincis.) Neben ihm, auf Augenhöhe, steht Aristoteles, mit seiner Rechten die Höhenflüge seines Lehrers in Richtung Erde dämpfend. Dies ist das Spannungsfeld, in dem sich die Philosophie von nun an bewegen wird.
Die antike Philosophie nach Platon und Aristoteles: Glück, Zynismus und Gelassenheit
Platon und Aristoteles waren Höhepunkt aber nicht Ende der antiken Philosophie. In den folgenden, von Instabilität gekennzeichneten Jahrzehnten entstanden zwei weitere bedeutsame Schulen, die ganz neue Akzente setzten. Ihr Ziel war es nicht, das Wissen über die Welt zu mehren, sondern vor allem, ob der unsicheren Verhältnisse, eine richtige und pragmatische Lebenseinstellung zu finden. Die Epikureer, nach ihrem Begründer Epikur benannt, betonen das natürliche Bedürfnis aller Menschen, Eudaimonia zu suchen. Es gilt, einerseits das kindliche Lust- und Glücksempfinden zu bewahren und andererseits mit zunehmender Reife Weisheit in den Lebensentwurf einzubauen – eine Lebenseinstellung, die erarbeitet werden will. Insbesondere müssen wir lernen, ungute Gefühle wie Angst, Schmerzen und Begierden aus unseren Leben zu verbannen. Die Menschen brauchen dabei die Götter nicht zu fürchten, denn sie interessieren sich nicht für menschliche Schicksale und auch der Tod sollte uns nicht schrecken, bedeutet er doch Erlösung von allem Schmerz und Leid.
Die Kyniker, von denen sich das Wort Zynismus ableitet, suchten das Glück im Streben nach Bedürfnislosigkeit. Ihr bekanntester Vertreter ist Diogenes von Sinope, ein Zeitgenosse Platons. Die wie Bettelmönche in selbstgewählter Armut lebenden Aussteiger-Philosophen, die gerne über ihre Mitmenschen spotteten, waren eine kurze Erscheinung, doch sie beeinflussten die Entstehung einer anderen Denkschule, dem von Zenon von Kition begründeten Stoizismus. Ihre Adepten lehrten die Freiheit von materiellen Zwängen und sahen den Schlüssel zum Glück in hart erarbeiteter Askese und Selbstkontrolle. In der stoischen Weltordnung hat alles im Kosmos seinen festen Platz. Unglück entsteht nur, wenn wir gegen diese universelle Ordnung verstoßen. Lebensziel der Stoiker ist es daher, seinen vorbestimmten Platz im Universum zu finden und zu akzeptieren.
Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert geriet Griechenland zunehmend unter den Einfluss des expandierenden Römischen Reiches. Die Römer, als ausgesprochene Pragmatiker, zeigten sich vor allem an den praktischen Aspekten der griechischen Philosophie interessiert. Insbesondere der Stoizismus erschien ihnen als attraktive Lebenshaltung und fand weite Verbreitung unter den Eliten. Marcus Tullius Cicero war einer der Ersten, der philosophische Texte auf Latein verfasste, eine lateinische Fachterminologie prägte und damit die Philosophie im Römischen Reich weiter popularisierte. Der um die Zeitenwende geborene römische Philosoph Seneca, einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit, erhob als überzeugter Stoiker inneren Frieden, Gelassenheit und Vernunft zum wichtigsten Lebensziel. Mit Marc Aurel schuf rund 100 Jahre später sogar ein Kaiser mit seinen auf Griechisch verfassten „Selbstbetrachtungen“ den letzten bedeutsamen Beitrag zur stoizistischen Literatur. In ihnen legt er dar, wie der „Logos“ als großer Weltenplan die Dinge ordnet und dem die Menschen am besten dienen, indem sie ihre Emotionen kontrollieren und sich rational verhalten.
Wer mehr wissen will:
Aristoteles (1975): „Die Nikomachische Ethik“, Dtv.
Aristoteles (1995): „Metaphysik“, Meiner.
Marc Aurel (2020): „Selbstbetrachtungen“, Finanzbuch Verlag.
Bildnachweis:
Fußnoten:
[i] Genau genommen beschreibt Syllogismus bei Aristoteles nur eine spezielle Form des deduktiven Schließens, die mit nur zwei Prämissen, einer Konklusion und drei Begriffen arbeitet.
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