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AutorenbildJens Bott

Was ist Zeit? Vier verschiedene Antworten aus Physik, Philosophie, Psychologie und Ökonomie

Aktualisiert: 3. Juli

Was ist Zeit?

Mein Buch hat elf Kapitel, denen ich turnusmäßig jede Woche einen Blogartikel widme. Der zwölfte Artikel in dem Zyklus gehört jeweils einem Thema „außer der Reihe“, der Versuch einer andern Perspektive, die vielleicht Querverbindungen und Zusammenhänge aufzuzeigen vermag.


Diesmal möchte ich die „Zeit“ in den Mittelpunkt stellen. Beim Schreiben ist mir aufgefallen, dass sie ein Phänomen darstellt, das in unterschiedlichen Kapiteln eine zentrale Rolle spielt und so als roter Faden verschiedenste Wissensgebiete miteinander verbindet. 

 

Eine grosse astronomische Uhr aussen an einem Gebäude angebracht
Die astronomische Uhr in der Altstadt von Prag

Die Perspektive der Physik

Bei Isaac Newton, dem Begründer der klassischen Mechanik, sind Zeit und Raum die Bühne, auf der sich das Theater der Physik abspielt. Die Zeit ist eine statische Größe, gemessen durch das unveränderliche, gleichförmige Ticken einer Uhr. Eine Uhr gibt an, wieviel Zeit während eines bestimmten Vorgangs – etwa dem gleichmäßigen Hin- und Herschwingens eines Pendels – vergeht. Während Zeit vergeht, nehmen die physikalischen Vorgänge ihren Lauf.   

Der französische Mathematiker und Physiker Pierre-Simon Laplace folgerte zu Beginn des 19. Jahrhunderts daraus, dass ein fiktiver, allwissender Weltgeist, der sämtliche Kausalitäten des Universums in Form von Funktionsgleichungen erfassen und simultan verarbeiten kann, rein theoretisch die Bewegung aller Materie und damit die Geschichte der Welt bis an das Ende aller Zeit vorausberechnen könnte. Der Laplacesche Dämon – wir würden ihn heute als „Supercomputer“ bezeichnen – wurde zum Leitmotiv eines deterministischen Weltbilds.


Eine entscheidende Erweiterung dieser Perspektive brachte Mitte des 19. Jahrhunderts die physikalische Teildisziplin der Thermodynamik. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Gesamtmenge an Unordnung in einem geschlossenen System mit der Zeit stets zunimmt und geordnete Strukturen über kurz oder lang immer nur zerfallen. Diese unumkehrbarere Entwicklung, die ein physikalisches System von der Ordnung zur Unordnung führt, wird als Entropie bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um ein deterministisches Naturgesetz, sondern um ein rein stochastisches Phänomen. Im zweiten Hauptsatz stecken einige für das Weltverständnis sehr grundlegende Implikationen. Zunächst die, dass es im Universum eine allgemeine Tendenz zum Informationsverlust gibt: Eine heiße Tasse Kaffee ist eine geordnete Struktur. Sie stellt eine Information dar, weil hier Energie an einem Ort in konzentrierter Form vorliegt. Mit der Zeit aber gibt die Tasse Wärme ab, bis sich Tassen- und Umgebungstemperatur einander angeglichen haben. Dies geschieht nur, weil es wahrscheinlicher ist, dass der Kaffee den Raum erwärmt als der Raum den Kaffee. Mit der Angleichung an die Raumtemperatur geht Information verloren; Entropie misst das Ausmaß dieses Verlusts. In seinem letzten Stadium, dem gesichtslosen Chaos, enthält das System keine Botschaften mehr.


Eine alte goldene Taschenuhr mit römischen Ziffern und aufgeklapptem Deckel
Kein Weg zurück

Eine andere sehr wichtige Implikation des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes ist, dass er uns nicht weniger als das physikalische Wesen der Zeit erklärt. Der Marsch eines geschlossenen Systems in die Entropie ist unumkehrbar. Unumkehrbarkeit aber ist in der Physik etwas Besonderes, da sich ihre Vorgänge grundsätzlich allesamt umdrehen lassen: Filmt man die Schwingungen eines Pendels, so stellt sich der Vorgang, wenn man den Film rückwärts ablaufen lässt, exakt gleich dar. Die Chancen, dass die Luft den Kaffee in der Tasse wieder erwärmt oder dass sich die zerbrochene Kaffeetasse zufällig wieder von allein zusammenfügt, stehen hingegen ausgesprochen schlecht. Das, was zwischen zwei Ereignissen vergeht, nennen wir Zeit. Einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt es nur, weil dazwischen Ereignisse liegen, die sich nicht mehr umkehren lassen und allein deshalb kennt die Zeit nur eine Richtung. Die Dinge der Welt sind vergänglich, weil es wenige Möglichkeiten gibt, einen Zustand zu erhalten, aber viele, ihn zu zerstören. Darum ist das Gestern verloren und nur deshalb wissen wir über die Gegenwart mehr als über die Zukunft. Die einzige Zeit, die wir tatsächlich kennen können, ist das auf einen Punkt zusammengezogene Hier-und-Jetzt.

Ein stehender und ein fahrender Zug
Zeit ist eine Frage des Bewegungszustands

Die vorläufig letzte Erweiterung unserer physikalischer Vorstellung von der Zeit kam 1905 mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Er zeigte, anhand einer einfachen Überlegung, dass Zeit keinesfalls die von Newton postulierte statische Größe ist, sondern sich relativ zum Bewegungszustand verschiedener Beobachter verhält. Kurz formuliert besagt diese Zeitdilatation, dass bewegte Uhren langsamer gehen als unbewegte Uhren. Warum das so ist, werden wir in dem kommenden Blogartikel über die Relativitätstheorie betrachten, nur so viel vorab: Für einen Astronauten, der sich nahe der Lichtgeschwindigkeit bewegt, würde die Zeit relativ zur Perspektive eines auf der Erde zurückgebliebenen Zwillings viel langsamer vergehen. Während für den Raumfahrer nur ein Jahr verstreicht, würde sich die Erde mehrmals um die Sonne drehen. Mit einem phantastisch schnellen Raumschiff könnte der Astronaut also in die Zukunft unseres Planeten reisen und dort seinen viel älter gewordenen Zwilling treffen. Eine Reise in die Vergangenheit ist hingegen logisch ausgeschlossen: wäre sie möglich, könnten wir theoretisch unsere Eltern oder Großeltern töten, noch bevor sie uns in die Welt gesetzt hätten.

Ein Astronaut mit Raumanzug im All, im Hintergrund die blaue Erde
Back to the Future

Dieses Großvater-Paradoxon wäre aber ein Verstoß gegen das fundamentale Prinzip von Wirkung und Ursache. Für eine Zeitreise in die Vergangenheit müsste man in der Lage sein, das gesamte Universum in einen Zustand zu versetzten, der einmal zu einem früheren Zeitpunkt geherrscht hat. Dies bedeutet aber auch, dass man sämtliche Erlebnisse und Erfahrungen, die man seit diesem Moment gemacht hat, wieder verlieren müsste – andernfalls wäre es möglich, den Lauf der Geschichte rückwirkend zu beeinflussen. Unternähme man eine solche Zeitreise würde man also gar nichts davon merken.

 

Eine Perspektive der Philosophie

Augustinus von Hippo, der am Übergang von der Antike zum Mittelalter lebte, verdanken wir eine neue und einzigartige Überlegung zum Wesen der Zeit, die erstmalig Geschichtlichkeit und Einmaligkeit der menschlichen Existenz in den Fokus der Philosophie rücken (Dies wurde später das große Thema der Existenzialisten). Die neue Perspektive wurde notwendig, da die in der Genesis beschriebene Erschaffung aus dem Nichts den Griechen und Römern fremd war – Materie und Zeit hatte es für sie schon immer gegeben. Für Augustinus aber ist die Zeit gemeinsam mit der Welt entstanden (eine Aussage, die sich, wie wir bereits gesehen haben, in völliger Übereinstimmung mit der modernen Physik befindet.) Gott selbst ist nicht in der Zeit; er schwebt über ihr und kann so ihren Strom von außen betrachten.


Der Heilige mit einer Bischofsmütze, schreibt in ein Buch während auf seiner rechten Schulter eine weiße Taube sitzt
Phantasiedarstellung von Augustinus aus dem 15. Jahrhundert

Aus dieser Zeitlosigkeit entsteht Gottes Ewigkeit. Da er allwissend ist, ist ihm auch alles Vergangene und Zukünftige bekannt. Die Zeit selbst ist keine dingliche Erscheinung, sondern allein eine Projektion des menschlichen Geistes. Letztlich gibt es auch hier wieder nur die Gegenwart. Die Gegenwart der Vergangenheit ist unsere Erinnerung; die Gegenwart des Gegenwärtigen ist der Augenblick; die Gegenwart des Zukünftigen sind unsere Erwartungen. „Was ist also die Zeit?“ fragt der Philosoph. „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht.“ Mit seinem subjektiven Zeitbegriff hat Augustinus die Philosophie um einen bemerkenswerten Gedanken bereichert.

 

Die Perspektive der Psychologie

Wer kennt nicht die Wahrnehmung, dass wir subjektiv das Vergehen der Zeit mal als langsam, mal als schnell empfinden. Müssen wir auf etwas warten, kommt uns die Zeit quälend lang vor, haben wir Ablenkung, empfinden wir die Zeit als kürzer – sicherlich der Grund warum wir im Wartesaal oder auf dem Bahnsteig immer gleich das Mobiltelefon aus der Tasche ziehen (nein, das soll keine versteckte Kritik an der Deutschen Bundesbahn sein!)

Die Ursachen für diese nicht objektive Wahrnehmung liegt in der Funktionsweise unseres Nervensystems. Mit zunehmenden Alter bestimmen immer mehr Routinen unseren Alltag, letztlich, weil wir, anders als während der Kindheit und der Jugend, schlichtweg weniger neue Erlebnisse haben. In der Rückschau empfinden wir daher, dass die Zeit im Alter schneller vergeht, einfach weil es weniger gibt, an das es sich zu erinnern lohnt, während in Kindheit und Jugend laufend neue Eindrücke auf uns einprasselten, die zu neuen neuronalen Verknüpfungen führten. (Zur grundlegenden Funktionsweise des Gedächtnisses mehr hier). Dieser durch den sogenannten „Alterseffekt“ ausgelösten Wahrnehmung können wir entgegenwirken, indem wir unsere Routinen durchbrechen und uns neuen Reizen aussetzen, die dann auch viele neue Erinnerungen schaffen.      

 

Die Perspektive der Ökonomie

Benjamin Franklin war nicht nur ein erfolgreicher Politiker, Erfinder des Blitzableiters, Pionier der Erforschung des Elektromagnetismus und Schriftsteller, sondern auch als Besitzer einer Druckerei und eines Zeitungsverlags ein erfolgreicher Geschäftsmann. In seiner Schrift „Advice to a Young Tradesman, Written by an Old One“ (1748) prägte er das bekannte Zitat: “Zeit ist Geld“. („Remember that Time is Money“). Was hat es damit auf sich?

Aus Sicht der Finanzmärkte ist Geld ein Gut wie jedes andere: Es hat einen Preis, der sich aus Angebot und Nachfrage ergibt. Dieser Preis ist der Zins. Mit ihm kommt der Faktor Zeit in die ökonomische Betrachtung, eine Dimension, der die klassische und neoklassische Theorie noch wenig Beachtung geschenkt hatte. Der Zins bringt zum Ausdruck, dass ein Betrag heute und derselbe Betrag morgen nicht das gleiche sind. 3% Zinsen pro Jahr bedeuten, dass ein Kreditnehmer, der heute 100 Euro erhält, dem Kreditgeber in einem Jahr 103 Euro zurückzahlen muss. Für beide sind 100 Euro heute und 103 Euro in einem Jahr somit äquivalent. So wie die Inflation ist auch der Zins eine zentrale Größe der makroökonomischen Theorie (auch auf diese Theorie werden wir noch in einem der künftigen Blogs eingehen).


Ein Portrait aus dem 18. Jahrhundert zeigt einen stattlichen Mann mit langem, schütterem Haar
Multitalent Benjamin Franklin

Der Zins setzt sich aus drei Komponenten zusammen. Er beinhaltet erstens eine Prämie auf den Verzicht des Kreditgebers das Geld zum jetzigen Zeitpunkt selbst anderweitig verwenden zu können; es berücksichtigt also dessen sogenannte Opportunitätskosten. Zweitens enthält er eine Risikoprämie dafür, dass manche Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlen werden. (Der italienische Ökonom Ferdinando Galiani bezeichnete den Zins bereits Mitte des 18. Jahrhunderts als den „Preis für das Herzklopfen“ des Gläubigers.) Die dritte Komponente des Zinses ist die Kompensation für den inflationsbedingten Kaufkraftverlust: Bei einer Inflationsrate von 2% schmilzt der nominale Betrag von 3% auf einen realen Zins von nur 1%.

 

 

Wer mehr wissen will:

Safranski Rüdiger (2015): „Zeit, was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“, Hanser.

Augustinus, Aurelius (1888): „Bekenntnisse” (Confessiones) Buch XI, 14. Kapitel, Reclam.

Franklin, Benjamin (2012): Advice to a Young Tradesman, Written by an Old One, Cambridge University Press.

 

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7 Comments


jotfried
Jun 30

Alleine GOTT ist WIRKLICHKEIT.

Kein Wunder, dass der Teufel schreit: 

DU BIST NICHT GANZ GESCHEIT,

HÖR AUF DAMIT, DU GEHST ZU WEIT ! ! !

DENK AN EINSTEIN, DER VOLLER FREUD 

MATHEMATISCH BEWIES, WIE  'ZEIT' 

PER GRAVITATION + GESCHWINDIGKEIT 

PHYSIK UMKREMPELTE  LANG UND BREIT,

O D E R   kürzer 

Vermutlich jeder es versteht,

Leben nur in Zwischenzeit geht.

So präsentiert -- ganz ohne Spott --

sich im SEIN der Schöpfer GOTT 

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jotfried
Jul 17
Replying to

Gott sucht nicht. Er findet.

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Viele Worte, und doch nicht die einfachste Erklärung: Zeit ist ein Maß, mit dem wir unsere Welt messen und beschreiben. Für unveränderliche Abstände und Zustände brauchen wir Maße wie Meter und Kilogramm. Für veränderliche Ereignisabläufe und Zustände brauchen wir Maße wie Sekunde, Ampere, Kelvin. "Zeit" zeigt uns den chronometrischen Abstand zwischen Ereignissen und Zuständen an.

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jotfried
Jun 29

ENDE DER ZEIT


Das Aufspalten der Ewigkeit

in Zukunft und Vergangenheit

macht sich in der Zwischenzeit

durch lebende Lebendigkeit

hocherfreut als Wahrheit breit,

heißt darum gern auch "Wirklichkeit",

ist nebenbei noch hoch-gescheit

und überdies gebenedeit,

weil gleich-zeitig ENDE von ZEIT,

weshalb zunächst der 😈 schreit :

HÖR AUF DAMIT, DAS GEHT ZU WEIT !


FREEWARE

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jotfried
Jun 29

Das Denken von Gedanken findet statt grundsätzlich nur in lebender Lebendigkeit, die ihrerseits nirgendwo sonst "passiert" als in der Gegenwart. Was wir ZEIT nennen, setzt sich zusammen aus Zukunft und Vergangenheit. Zuvor erwähnte Gegenwart ist "nur" verbale Schnittstelle von etwas, was noch nicht existiert und etwas anderem, was nicht mehr existiert.

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