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Die Jagd nach der Weltformel

 

Weltformel

Einstein und die Quantenphysiker hatten sich an die äußersten Ränder vorgewagt und mit zwei neuen Theorien alte Gewissheiten erschüttert. Newtons Weltbild war nur im Bereich der menschlich-irdischen Maßstäbe hinreichend genau. Auf die Streckbank der Extreme gespannt aber zeigte sich, dass die mechanische Theorie im Kern falsch war. Zudem war offenbar geworden, dass die Welt in alle Richtungen begrenzt ist: Nichts im Universum kann schneller sein als das Licht; keine Temperatur kann unter den absoluten Nullpunkt fallen; keine Wirkung die eines Quants unterschreiten. Naturgesetze sind nur innerhalb dieser Schranken gültig. Was sich jenseits davon befindet, bleibt den Möglichkeiten unserer Erkenntnis auf ewig verborgen.


Symbolbild mit kosmologischen Symbolen wie Planeten und Galaxien; in der Mitte gross die Formel E=mc2
Wie sieht sie aus, die Weltformel? Einsteins Gleichung ist sicher nur eine Teil von ihr

In das Kräftechaos, das innerhalb dieser Grenzen tobte, hatte man immerhin Ordnung gebracht. Sonnenschein, Auftrieb, Fliehkraft, Planetenbewegung, fallende Äpfel, Reibung, Blitze, Magnetismus, Radioaktivität, chemische Reaktionen, Schallwellen oder Muskelzucken sind Ausdrucksformen von lediglich vier Grundkräften. Die Natur hatte sie in einem stabilen System, dem Atom, vereint und jede von ihnen mit einem eigenen Charakter ausgestattet. Naturgesetze sind nichts weiter als mathematisch exakt beschreibbare Wechselspiele aus Energie und Materie, die dafür sorgen, dass die Welt so ist, wie sie ist. Zwei dieser Kräfte, Elektromagnetismus und Schwerkraft, sind für uns im Alltag erfahrbar; starke und schwache Kernkraft hingegen entfalten ihre alchemistischen Wirkungen allein im Verborgenen.

 

Vier Grundkräfte regieren die Welt

Zusammen beschrieben Relativitätstheorie und Quantenphysik wesentliche Teile der Welt. Spaltung und Fusion von Atomkernen hatten zudem gezeigt, dass die beiden großen modernen Theorien der Physik irgendwie miteinander verbunden sind. Was fehlte, war eine übergeordnete Theorie, die alle Aussagen Einsteins und der Quantenphysiker widerspruchslos miteinander vereinte. 

Gravitation

·       Unbegrenzte Reichweite, nicht abschirmbar

·       Wird im Quadrat des Abstands schwächer

·       Relative Stärke: 10-38

·       Bosonen: Gravitonen?

Elektromagnetismus

·       Unbegrenzte Reichweite, abschirmbar

·       Wird im Quadrat des Abstands schwächer

·       Relative Stärke: 10-2

·       Bosonen: Photonen

Starke Kernkraft

·       Reichweite kürzer als Atomkerndurchmesser

·       Nimmt mit dem Abstand zu

·       Relative Stärke: 1

·       Bosonen: Gluonen

Schwache Kernkraft

·       Reichweite kürzer als Atomkerndurchmesser

·       Kann Teilchen verwandeln

·       Relative Stärke: 10-13

·       Bosonen: W und Z-Bosonen

Die vier Grundkräfte der Natur. Die relative Stärke besagt, dass die starke Kernkraft 100.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000-mal stärker ist als die Gravitation

 

 

Big Bang – Die Kirche ist von Anfang an dabei

Mitte der 1920er Jahre hatte der amerikanische Astronom Edwin Hubble entdeckt, dass das Universum nicht nur aus der Milchstraße, sondern aus unzähligen weiteren Galaxien besteht, die sich alle mit rasender Geschwindigkeit voneinander entfernen. Die Welt war nicht, wie alle bisher geglaubt hatten, statisch, sie strebte vielmehr mit Macht auseinander. Ein katholischer Priester aus Belgien, Georges Lemaître, zog 1927 als Erster daraus einen logischen Schluss: Wenn das Universum regelrecht in alle Richtungen explodiert, kann man auf dem Zeitpfeil zurückgehen bis zu Anfang und Ausgangspunkt der Fluchtbewegung. Eine weitere Erkenntnisgrenze war deutlich geworden: Die Welt und ihre Gesetze waren erst in jenem ursprünglichen Augenblick entstanden. Was vor diesem Anfang war, bleibt für uns unerforschlich.


Kolorisiertes historisches Foto - rechts Einstein mit strubbeligen Haaren; in der Mitte Lemaître, ganz in Schwarz mit Priesterkragen: schwarze Haare, ernster Blick, Nickelbrille
Einstein und Lemaître im California Institute of Technology 1933

Die Urknalltheorie blieb zunächst umstritten. 1946 prognostizierten amerikanische Kosmologen, dass, sofern es den Urknall tatsächlich gegeben haben sollte, sich sein „Echo“ in Form einer kosmischen Hintergrundstrahlung aus Mikrowellen finden lassen müsse. Die katholische Kirche, die in der Vergangenheit neuen naturwissenschaftlichen Theorien zunächst oft skeptisch gegenübergestanden hatte, erkannte die Urknalltheorie bereits 1951 an, einem Zeitpunkt, zu dem die meisten Physiker noch nicht überzeugt waren. Aus Sicht der Religion ließ sich der Big Bang als singulärer, göttlicher Schöpfungsakt deuten. Der Durchbruch kam 1964, als zwei amerikanische Radiophysiker der Bell Laboratories beim Ausrichten ihrer neuen Antenne ein permanentes Störgeräusch auffingen, das sie zunächst mit Taubendreck auf ihrem Empfänger in Verbindung brachten. Bald aber stellte sich heraus, dass es sich hierbei um eben jenes vorhergesagte „Echo“ des fernen Urknalls handelte. Damit war die Big-Bang Theorie nun auch in wissenschaftlichen Kreisen etabliert: Die Geschichte des Universums war die einer sich stetig ausdehnenden Raumzeit, in der die Grundkräfte nach und nach in immer komplexere Wechselwirkungen miteinander traten.

 

Schwingende Quarks

Ebenfalls Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich ab, dass man am anderen Ende des Betrachtungsspektrums immer noch nicht auf der untersten Ebene angekommen war. Für die unscharfen, schwingenden Strukturen, die sich zu Protonen und Neutronen kristallisieren, prägte der amerikanische Physiker Murray Gell-Mann den Begriff „Quarks“, ein Wort, das er einem Roman von James Joyce entlehnt hatte. Wenige Jahre zuvor hatte man begonnen, Teilchenbeschleuniger zu bauen, gigantische Crashtestanlagen, die der Materie ihre letzten Geheimnisse entreißen sollten. In ihnen beschleunigen elektromagnetische Felder massebehaftete Partikel auf nahezu Lichtgeschwindigkeit. Damit wurde es möglich, die von Einstein beschriebene Umwandlung von Bewegungsenergie in Materie direkt zu beobachten. Die erzwungenen Zusammenstöße von Elementarteilchen führten zur Entdeckung eines ganzen „Zoos“ von neuen Partikeln, wie Myonen, Tauonen, Neutrinos und verschiedenen Quark-Typen. Die Kollisionssplitter, die nur für unvorstellbar kurze Zeitspannen von 10-24 bis 10-7 Sekunden existieren, helfen Ursprung und Aufbau der Materie besser zu verstehen. Jedem dieser Teilchen musste Sekundenbruchteile nach dem Urknall eine ganz bestimmte Rolle zugekommen sein.


Um 1970 hatte man ein Modell entwickelt, das beschrieb, wie Quarks Nukleonen entstehen lassen. Protonen und Neutronen waren der Zusammenschluss dreier verschiedener Quarks, mit jeweils unterschiedlichen Ladungen, die man nach einer Analogie aus der Farbenlehre als blaue, grüne und rote Farbladungen bezeichnete. Zusammen sind die drei Ladungen nach außen hin neutral, so wie die drei uns bekannten Farben zusammen das neutrale „Weiß“ ergeben. Eine weitere, dem Drehimpuls ähnliche Eigenschaft der Quarks ist der Spin, dessen Drehrichtung bestimmt, ob es sich um Up-Quarks oder Down-Quarks handelt. Wirken zwei Up-Quarks und ein Down-Quark zusammen, entsteht ein Proton. Sind im Dreierbund zwei Down-Quarks und ein Up-Quark vereint, bilden sie ein Neutron. Die bei Zerfalls- und Fusionsprozessen auftretende Wandlung von Neutronen in Protonen wird durch die schwache Kernkraft bewirkt, die einen Down-Quark in einen Up-Quark verwandelt.

          

Sybolische Darstellung von Quarts mit roter, grüner und blauer Farbladung
Quarkstruktur von Protonen (links) und Neutronen (rechts)

Das Standardmodell erklärt vieles – aber nicht alles

Kurz darauf gelang der experimentelle Nachweis, dass schwache Kernkraft und Elektrizität bei extrem hohen Energien durch eine elektroschwache Wechselwirkung miteinander vereint sind. Das deutete auf einen gemeinsamen Ursprung der beiden Kräfte hin – ein erster Schritt zur Rekonstruktion jener rätselhaften hypothetischen Urkraft, die die Geburt des Universums eingeleitet haben musste. 1974 entdeckte man, dass bei noch extremeren Temperaturen auch die starke Wechselwirkung nicht mehr von der elektroschwachen zu unterscheiden war. Die drei Grundkräfte hatten einen gemeinsamen Ursprung. Die Genesis hatte in ihren ersten Augenblicken eine Welt hervorgebracht, die anderen, einfacheren Gesetzen gehorcht haben musste.


Unser heutiges Physikverständnis beruht auf dem so genannten „Standardmodell der Teilchenphysik“. Es ist das umfassendste Bild, das wir von den grundlegenden Zusammenhängen des Universums haben. Basierend auf den experimentell erworbenen Erkenntnissen der 1970er Jahre, beschreibt diese Theorie, wie starke, schwache und elektromagnetische Quantenkräfte zwischen den Elementarteilchen wechselwirken, ohne dabei Aussagen der speziellen Relativitätstheorie zu verletzen.[i] Demnach besteht die Welt aus den beiden großen Teilchenfamilien der Fermionen und Bosonen, benannt nach Enrico Fermi und dem indischen Physiker Satyendranath Bose.

 

Die wichtigsten Spezies des Teilchenzoos als Orgchart dargestellt
Die wichtigsten Spezies des Teilchenzoos

Fermionen sind die Bausteine der Materie. Sie umfassen die Up- und Down-Quarks, die Protonen und Neutronen bilden, sowie die Leptonen, extrem massearme Teilchen, deren bekanntester Vertreter das Elektron ist. Leptonen stellen deshalb eine eigene Fermionen-Kategorie dar, weil sie sich der Wirkung der starken Kernkraft entziehen, während Quarks der Wirkung aller vier Grundkräfte unterliegen.


Bosonen sind die Überträger von Kräften und Massen. Die masselosen Eichbosonen umfassen jene Teilchen, die der Materie die vier Grundkräfte vermitteln. Dazu gehören die Photonen, die die elektromagnetische Kraft zwischen Elektronen und Protonen übertragen, die Gluonen, die die Quarks zusammenschweißen, sowie die W- und Z-Bosonen, als Vermittler der schwachen Kernkraft. Die Vermutung liegt nahe, dass es auch ein Boson für die Schwerkraft geben muss, das Graviton. Doch bis heute bleibt der Schwerkraftvermittler hypothetisch – kein Teilchenbeschleuniger konnte seiner bisher habhaft werden.

 

schematisch-historische Darstellung seit der Antike
Die Entwicklungsgeschichte der Physik

Bereits 1964 formulierte der britische Physiker Peter Higgs die Hypothese, dass es neben den Eichbosonen auch ein Boson geben müsse, das die Masse vermittelt. Auch dieses Teilchen entzog sich jahrzehntelang allen Zugriffsversuchen. 2012 gelang es schließlich der in der Schweiz beheimateten europäischen Kernforschungsorganisation CERN, das Higgs-Boson nachzuweisen.


Simulation des hypothetischen Zerfalls eSimulation des hypothetischen Zerfalls eines Higgs-Teilchens: Farbige Blitze zucken vor einem schwarzen Hintergrundines Higgs-Teilchens
Simulation des hypothetischen Zerfalls eines Higgs-Teilchens

Dies war der bis heute letzte große Erfolg des Standardmodells. Sein entscheidender Makel bleibt, dass die Gravitation, jene Grundkraft, die Raum und Zeit verbiegt und den Kosmos strukturiert, in ihm keinen Platz findet. Wir wissen nicht, wie Raumzeit und Schwerkraft in das Gesamtsystem der Physik eingebunden sind. Seit einem halben Jahrhundert suchen tausende Physiker auf der ganzen Welt nach einer Quantentheorie der Gravitation. Gelänge es, das Standardmodell um die vierte Grundkraft zu erweitern, hielte man die „Weltformel“ in der Hand, eine einheitliche mathematische Beschreibung von Materie und sämtlichen Kräften, die die Erkenntnisse der Elementarteilchenphysik mit denen der allgemeinen Relativitätstheorie widerspruchsfrei vereinen würde.



Es gibt noch viele Rätsel

Diese umfassende Theorie müsste in der Lage sein, aus der Dynamik subatomarer Teilchen heraus alle bekannten kosmologischen Phänomene erklären zu können. Eines dieser Phänomene ist der merkwürdige Umstand, dass es eigentlich sehr viel mehr Materie im Universum geben müsste, als wir beobachten können. Die für uns sichtbaren Sterne umkreisen das Zentrum ihrer Galaxien schneller, als wir aufgrund der uns bekannten Gravitationsträger erwarten würden. Etwa 85% aller Materie, die es demnach im Universum geben müsste, interagiert offenbar nicht mit elektromagnetischen Wellen, das heißt, sie ist unsichtbar und wird daher als „Dunkle Materie“ bezeichnet. Wir haben heute weder eine Vorstellung, ob es diese riesigen Stoffmengen überhaupt gibt, noch wie sie sich aufspüren ließen.


Genauso wenig können wir das Wesen der Naturkonstanten erklären. Warum sind Lichtgeschwindigkeit, Gravitationskonstante oder das Plancksche Wirkungsquantum jeweils so und nicht anders definiert? Warum sind sie unveränderlich und warum lassen sie sich durch keine Berechnung herleiten? Wieso haben wir den Eindruck, dass diese Konstanten auf eine ganz besondere Weise aufeinander abgestimmt zu sein scheinen? Würde etwa die Gravitationskonstante von 6,67430…  10-11  auch nur in der sechszigsten Nachkommastelle nach oben oder unten abweichen, wäre das Universum eine Sekunde nach dem Urknall entweder so rasch expandiert, dass sich keine Sterne hätten bilden können, oder so langsam, dass es wieder in sich zusammengefallen wäre. Ähnliche Feinabstimmungen zeigen sich auch bei anderen Konstanten. Sie ermöglichen die lange Brenndauer von Sternen oder die Synthese von Kohlenstoff, beides zwingende Voraussetzung für die Entstehung von Leben. Liegt dem Kosmos also ein vor dem Schöpfungsakt festgelegtes geniales Design zugrunde? Diese Frage ist natürlich umstritten. Ein reiner Zufall wäre möglich, ist aber extrem unwahrscheinlich. Denkbar wäre, dass ein Universum auch mit anders abgestimmten Naturkonstanten existieren könnte und vielleicht ebenfalls Leben hervorgebracht hätte, vielleicht auf der Basis von Silizium. Ein weiterer Erklärungsansatz, das anthropische Prinzip, nimmt eine ganz andere Perspektive ein: Demnach spielen die scheinbaren statistischen Abhängigkeiten letztlich keine Rolle; wäre die Konstellation eine andere gewesen, gäbe es schlichtweg niemanden, der über das Weltall und das Leben nachdenken könnte. Und auch eine planvolle göttliche Schöpfung bleibt nach wie vor eine mögliche Option.


Wäre eine Weltformel, die die rätselhafte Feinabstimmung der Naturgesetze und alle weiteren kosmologischen Rätsel erklären würde, auch für Laien verständlich? Wahrscheinlich nicht. Unsere Vorstellungskraft könnte ihre Aussagen wohl kaum nachvollziehen, eine Beschreibung wäre allein durch abstrakte, komplizierte Mathematik möglich. Die moderne Physik ist weit entfernt von der Ästhetik, der Einfachheit und der Poesie der Newtonschen Bewegungsgesetze oder der Planckschen und Einsteinschen Energieformeln.

Dennoch ist die Geschichte der Physik eine überaus erfolgreiche. Neugierige Menschen haben den wilden Strauch bizarrer Naturphänomene auf vier grundlegende Triebe zurückgeschnitten. Die Wechselwirkungen zwischen Energie und Materie, die diese vier Grundkräfte beschreiben, bedingen letztlich auch die Möglichkeit, dass Atome über den Sinn von Atomen nachdenken können. Doch hier endet die Zuständigkeit der Physik. Naturgesetze können nur darstellen, „wie“ etwas ist. „Warum“ Energie und Materie existieren und wer oder was die Spielregeln für ihre Wechselwirkungen so festgelegt hat, dass daraus ein Bewusstsein entstehen konnte, sind Fragen an Religion und Philosophie.

 

Der Weg, der von toter Materie zu fragendem Bewusstsein führte, war lang. Die Atome mussten sich dazu auf eine außerordentlich komplexe Art und Weise miteinander verbinden. Grundlage dieser Verbindungen ist die elektromagnetische Kraft. Die spezielle Physik, die sich mit den Spielregeln der Aggregation der stofflichen Welt befasst, bezeichnen wir als Chemie.          

 

Mit diesem Beitrag endet die Artikelserie zum Themenbereich Physik

 

 

Wer mehr wissen will:

Spektrum der Wissenschaft (03 / 2024): Spektrum Kompakt: Die Suche nach der Weltformel

 

Bildnachweise:


Anmerkungen:

[i] Die drei dem Standardmodell zugrundeliegenden Quantenfeldtheorien sind: die Quantenelektrodynamik, die den Elektromagnetismus beschreibt; die schwache Wechselwirkung, die die schwache Kernkraft, sowie die Quantenchromdynamik, die die starke Kernkraft erklärt.

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