Geschichte der Menschheit: Die Zeit der Ismen (Teil1): 1840 bis 1900
- Jens Bott

- 10. Sept.
- 6 Min. Lesezeit
Die Zeit der Ismen
Zwischen 1840 und 1945 werden Europa und Nordamerika ihre militärische, politische, ökonomische und technologische Überlegenheit skrupellos ausspielen und sich dabei fast den ganzen Rest der Welt untertan machen. Zugleich wird der Westen durch nie dagewesene militärische und soziale Konflikte erschüttert. Es ist die Zeit von Nationalismus, Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus, Sozialdarwinismus, Militarismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus.
Eine neue Fünferkonstellation
Das Königreich Preußen, nach Großbritannien, Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn die kleinste unter den fünf europäischen Großmächten, nutzt drei kurze Kriege – 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1870-1871 gegen Frankreich – um seine Vormachtstellung innerhalb Deutschlands auszubauen. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck (1815-1898) wird 1871 zum Architekten des ersten deutschen Nationalstaats: Preußens König Wilhelm I wird Deutscher Kaiser, Bismarck selbst Reichskanzler. Der alte Erzrivale Österreich wird nicht Teil des neuen Staatsgebildes. Im selben Jahr vereinigt Guiseppe Garibaldi (1807-1882) erstmals auch ganz Italien zu einem Königreich. In allen europäischen Staaten erhält der Nationalismus Auftrieb. Die Völker Europas nehmen sich nun mehr und mehr als ethnisch-kulturell definierte Schicksalsgemeinschaften wahr. Auch der einst kosmopolitische europäische Adel, durch vielfache dynastische Beziehungen miteinander verflochten, kann sich dem neuen Gefühl nicht verschließen. Nicht selten degeneriert der Nationalismus zum Chauvinismus: Die großen europäischen Mächte erheben für sich jeweils den Anspruch, zivilisatorisch höher zu stehen als ihre Nachbarn.

Europas Griff nach der Welt
Miteinander verbunden sind die Europäer jedoch in ihrer Gewissheit, dem Rest der Welt überlegen zu sein. Die offenbare Dominanz ihrer Errungenschaften begründet ein Denken, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Weg zu Kolonialismus und Imperialismus ebnet. Kolonien sind sowohl zollfreie Rohstofflieferanten als auch Absatzmärkte, so dass alle Industrieländer nun bestrebt sind, sich den größtmöglichen Anteil an der Welt zu sichern. Das größte Kolonialreich schaffen die Briten: Neben Kanada, Australien und Neuseeland, in denen britische Auswanderer die Bevölkerungsmehrheit stellen, gehören dazu große Gebiete im Osten und Süden Afrikas, auf der arabischen Halbinsel, in Südostasien und vor allem Indien. Insgesamt herrschen die Briten über annähernd ein Viertel der Welt. Die Franzosen, als zweitgrößte Kolonialmacht, bringen fast ganz Nordwestafrika sowie Indochina unter ihre Kontrolle. Russland unterwirft Zentralasien, den Kaukasus und das riesige Sibirien und wird dadurch zum größten Land der Erde. Auch Österreich-Ungarn kolonisiert lieber vor der eigenen Haustür und weitet seinen Einflussbereich in Richtung Balkan aus. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 berauben die USA mit Kuba, Puerto Rico, Guam und den Philippinen das einst mächtige Spanien seiner letzten nennenswerten Kolonien. Auch kleine Länder wie Belgien und Portugal sind mit dabei und sichern sich große Teile des afrikanischen Kontinents. Belgisch Kongo etwa ist rund 70-mal so groß wie das „Mutterland“.
Deutschland und Italien, die beiden verspäteten Nationen, kommen auch bei der Verteilung der Welt zu spät. Deutschland erhält vier verstreute Kolonien in Afrika sowie Teile von Neuguinea und einige Mikronesische Inseln; Italien eignet sich Libyen und das Horn von Afrika an. Das Osmanische Reich, die einzige nichteuropäische Kolonialmacht, gehört zu den Verlierern der europäischen Expansion. Russland unterstützt die Aufstände der orthodoxen Bevölkerung auf dem Balkan gegen die türkische Herrschaft. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts verliert das Osmanische Reich seine ausgedehnten Besitzungen in Südosteuropa und Nordafrika und hält nun nur noch Teile des Nahen Ostens unter seiner Kontrolle.
Krieg um Opium
Für die alten Machtzentren China und Japan verläuft die Konfrontation mit dem westlichen Expansionsdrang anders als für den Rest der Welt. Als die Briten beginnen, im großen Stil chinesischen Tee zu importieren, die Chinesen aber kein Interesse am Import britischer Güter zeigen und für den Tee in Silber bezahlt werden möchten, kommt es zum Konflikt. Da die Silberproduktion infolge der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriege der 1820er Jahre drastisch zurückgegangen ist, beginnt die britische Ostindien-Kompanie im großen Stil indisches Opium nach China zu schmuggeln.

Mit den Gewinnen aus dem Rauschgifthandel – die Drogen müssen in Silber bezahlt werden – sollen die Teeimporte finanziert und der Abfluss der eigenen Reserven des knappen Metalls in das Reich der Mitte verhindert werden. Ein Szenario, das deutlich macht, wie weit die Verflechtung der Weltwirtschaft seit Beginn der Neuzeit bereits fortgeschritten ist. Als der chinesische Kaiser Daoguang entschlossen gegen den rasch wachsenden Drogenhandel vorgeht, kommt es 1839 zum Opiumkrieg. Großbritannien entsendet eine verhältnismäßig kleine Streitmacht. Britische Raddampfer – sie gehören der Ostindien-Kompanie und nicht etwa der Royal Navy – schießen 1841 bei Kanton eine Flotte chinesischer Kriegsdschunken zusammen, deren Konstruktion sich seit der Zeit Zheng Hes kaum verändert hat. Auch zu Lande sind die nur mit Pfeil und Bogen, bestenfalls mit Kopien portugiesischer Luntenschlossflinten aus dem 16. Jahrhundert ausgestatteten kaiserlichen Truppen hoffnungslos unterlegen.
Im Vertrag von Nanking erfährt China 1842 eine Demütigung sondergleichen. Es muss die britischen Kriegskosten erstatten, die Insel Hongkong abtreten, sowie eine Entschädigung für das vernichtete Opium bezahlen. Das Land wird gezwungen, sich dem europäischen Außenhandel zu öffnen und verliert damit faktisch seine staatliche Souveränität. Die Niederlage erschüttert die Machtposition der ohnehin nicht populären Qing-Kaiser. Da grundlegende Reformen ausbleiben kommt es zu Unruhen. Der Taiping-Aufstand, ein von 1851 bis 1864 währender Bürgerkrieg, fordert 20 bis 30 Millionen Tote. Um die Jahrhundertwende wird der Boxeraufstand, die Erhebung eines chinesischen Geheimbunds gegen die Imperialmächte, durch die Intervention sechs europäischer Staaten und der USA niedergeschlagen. Erst 1912 gelingt es dem Revolutionär und Gründer der nationalkonservativen Kuomintang-Partei Sun Yat-sen (1866-1925), die Herrschaft der Qing-Kaiser zu beenden und die Republik auszurufen. Er legt damit den Grundstein für das moderne China und für eine künftige Weltmacht.
Sonderfall Japan
Mit einer nicht minder rabiaten Kanonenbootpolitik erzwingen ab 1853 die USA die Öffnung Japans und offenbaren so die Schwäche der Tokugawa-Dynastie, die daraufhin nach 250-jähriger Herrschaft abdanken muss.

Die Reformen, die der neue Kaiser Mutsuhito umgehend einleitet, führen das Land in eine völlig andere Richtung als China. Das vormals isolierte Inselreich macht sich innerhalb weniger Jahrzehnte westliche Technologien zu eigen, ohne dabei die eigene traditionelle Lebensweise aufzugeben. Japan wird selbst zu einer aggressiven imperialistischen Kolonialmacht, die sich aktiv an der Seite des Westens an der Unterdrückung des Boxeraufstands beteiligt. Die Welt horcht auf, als die Japaner 1905 die Großmacht Russland zu Lande und zu Wasser schlagen und damit ihren Anspruch auf die Mandschurei und Korea absichern.

Am Ende des 19. Jahrhunderts zeigt der westliche Imperialismus seine ganze Hässlichkeit. Im Kongo, von König Leopold II zu einer Art Privatkolonie eines belgischen Konzerns gemacht, werden unvorstellbare Gräuel verübt, denen Millionen Kongolesen zum Opfer fallen. Erreichend die Einwohner eines Dorfes nicht die geforderte Abgabequote für Kautschuk, werden zur Strafe Geiseln ermordet oder Hände und Füße abgehackt.

In Deutsch-Südwestafrika wird 1904 der Aufstand der Herero niedergeschlagen; tausende Angehörige des Nomadenvolks werden in die Wüste getrieben und müssen dort verdursten.

Auch Kolonialismus und Rassismus brauchen eine Begründung
Der Westen, Wiege der Menschenrechte, tritt diese Rechte außerhalb Europas mit Füßen – ein Widerspruch, der nach einer wissenschaftlichen Auflösung verlangt. Liefern wird sie der Franzose Joseph Arthur de Gobineau, der 1855 seinen „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ veröffentlicht. Kern der These ist eine behauptete intellektuelle Überlegenheit der Weißen über Menschen anderer Hautfarbe.

Würde sie sich mit den „minderwertigen" Gelben und Schwarzen vermischen, würde dies zum Niedergang der weißen Rasse führen. Doch auch innerhalb der Klasse weißer Herrenmenschen erkennt Gobineau eine Hierarchie, an deren Spitze Menschen mit nordisch-arischem Blut stehen.
Darwins Evolutionstheorie gibt solchen Ideen ab 1859 weiteren Auftrieb. Bedenkenlos die Unterschiede zwischen biologischer und kultureller Evolution ignorierend, übertragen Wissenschaftler und Kolonialpolitiker die Vorstellung der „Erhaltung von bevorzugten Rassen im Lebenskampf“ auf den Menschen.
Die Sozialdarwinisten leiten daraus das „Recht des Stärkeren“ ab, dem Schwächeren seinen Willen aufzuzwingen. Darwins Cousin Francis Galton und der Deutsche Biologe Ernst Haeckel verbinden Gobineaus Vermischungstheorie mit einem sozialdarwinistischen Biologismus und werden so zu Wegbereitern der Eugenik, die durch rassenhygienische Maßnahmen privilegiertes Erbgut schützen und verbessern möchte. Kolonialisten, wie der spätere englische Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling folgen einer anderen Argumentation.

Er deutet den Imperialismus in eine ethische Verantwortung um, eine als „Bürde“ aufzufassende Vormundschaftsrolle, die der weiße Mann auf sich nehmen müsse, um die kindlichen Menschen in den Kolonien zu entwickeln.[i]
Das 19. Jahrhundert – eine atemberaubende Entwicklung
Der Rückblick auf das vergangene Jahrhundert offenbart nie dagewesene Veränderungen: 1782 wurde im Kanton Glarus Anna Göldi als letzte Hexe hingerichtet. 1905 stellt Albert Einstein, ebenfalls in der Schweiz, die spezielle Relativitätstheorie auf. Während der 123 Jahre, die die beiden Ereignisse trennen, toben Französische Revolution und Napoleonische Kriege, beginnt das Zeitalter der fossilen Brennstoffe, werden Eisenbahn, Dampfschiff, Telekommunikation, Fotographie, Straßenbeleuchtung, Automobil und Flugzeug erfunden, entstehen Menschenmassen und Massenmärkte, werden Zellen, Keime und die Periodizität der Elemente entdeckt, Evolutions- und Quantentheorien aufgestellt, die Ökonomie mathematisiert, der fürsorgliche Staat aus der Taufe gehoben, die Geistes- und Sozialwissenschaften und eine Vielzahl von Ismen geboren.
Fortsetzung: Die Zeit der Ismen 1900-1945
Wer mehr wissen will:
Kennedy, Paul (2000): „Aufstieg und Fall der großen Mächte“, Fischer.
Bildnachweise:
[i] Rudyard Kipling entwickelt diese Idee in seinem 1899 veröffentlichten Gedicht „The White Man's Burden“.




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