top of page

Kants langer Schatten: von Fichtes "Ich" zu Hegels "Weltgeist"

Aktualisiert: 15. Juli


Kants idealistische Erben

Kants Werk – wir haben es im letzten Blog zur Kategorie Philosophie betrachtet – hatte neue Maßstäbe gesetzt. Eine ganze Generation deutscher Philosophen sollte sich in den drei Jahrzehnten nach seinem Tod am Erbe des kleinen Mannes aus Königsberg abarbeiten. Diese Blütezeit der Philosophie bezeichnen wir heute als den Deutschen Idealismus mit Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel als prominentesten Vertretern. Wie Kant wollten auch sie Erkenntnis und Moral vor den destruktiven Tendenzen, die im 18. Jahrhundert von den britischen Inseln gekommen waren, bewahren.[i] Den Idealisten war gemein, dass sie Kants Transzendental-, Moral- und Geschichtsphilosophie als großen Fortschritt anerkannten: Unserer Erkenntnisfähigkeit sind Grenzen gesetzt; menschliches Handeln sollte moralisch begründbaren Prinzipien der Vernunft folgen.

Portraits der drei Philosophen
Das Dreigestirn des Deutschen Idealismus: Fichte, Schelling und Hegel

Auf diesem kantschen Fundament errichteten Fichte, Schelling und Hegel ihre eigenen philosophischen Gedankengebäude. Fichte war überzeugt, dass sein Lehrmeister bei der Analyse des Verstandes nicht bis zu dessen innerstem Wesen dem handelnden, subjektiven „reinen Ich“ vorgedrungen war.[ii] Die Welt wird durch unser individuelles Bewusstsein geschaffen; sie ist das subjektive Ergebnis eines persönlichen, schöpferischen Prozesses, der Kants „Ding an sich“ nicht mehr benötigt.


Schelling, inspiriert durch die zahlreichen naturwissenschaftlichen Fortschritte seiner Zeit, erkannte, dass sich die mechanistisch-deterministische Naturerklärung newtonscher Prägung nicht einfach auf biologische Phänomene übertragen lässt. Für Schelling bedient sich die Natur der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, um sich ihrer selbst bewusst zu werden. Er sieht die Natur als einen einzigen gigantischen verwobenen Organismus; ein Gedanke, der Schelling zum romantischen Wegbereiter der Ökologie macht.


Fichtes und Schellings Welterklärungstheorien sollten in der (internationalen) Philosophiegeschichte keine allzu breite Wirkung entfalten, doch deutet sich bei ihnen bereits ein erweitertes Verständnis von Seelenleben und Biologie an, zwei Themen, die das 19. Jahrhundert entscheidend prägen werden.


Hegels Dialektik

Der bekannteste Vertreter des Deutschen Idealismus ist zweifelsohne Hegel; er gilt bis heute als einer der einflussreichsten, aber auch umstrittensten und am schwersten zugänglichen Philosophen überhaupt. 1770 in Stuttgart geboren, lebte er als Student der Theologie in Tübingen zeitweise in einer Wohngemeinschaft mit Schelling und dem Dichter Friedrich Hölderlin. In seinem ersten großen Werk, der 1807 erschienenen „Phänomenologie des Geistes“, führt Hegel bereits seinen zentralen Gedanken aus. Er verdeutlicht ihn am Leben einer Pflanze. Aus dem Samen wird eine Blüte, aus der Blüte eine Frucht. Mit der Frucht als dritter Phase schließt sich der Kreis, denn sie enthält den Samen für einen neuen Zyklus des Werdens und Vergehens. Nach Hegel können wir die Pflanze nur verstehen, wenn wir den gesamten Prozess mit all seinen Stadien betrachten. Was für die Pflanze gilt, gilt für alle Erscheinungen. Entwicklungen vollziehen sich stets in drei Schritten; das ist das Prinzip, das die Welt regiert – von der Natur über die christliche Trinität bis hin zur Menschheitsgeschichte. Anders als Kant sieht Hegel Antinomien als etwas Positives. Die Wahrheit liegt nicht in der Beschreibung von Zuständen, wir müssen die Welt vielmehr als dynamischen Prozess begreifen. Das Einzelne erschließt sich uns nur, wenn wir sehen, wie es mit dem Ganzen verwoben ist. Die Methode, mit der sich dieses Prinzip beschreiben lässt, ist die Dialektik. Hegel ist nicht der erste, der diese Technik verwendet. Seit der Antike bediente man sich ihr, um durch Rede und Gegenrede auf eine höhere Erkenntnisstufe zu gelangen. Aber erst Hegel macht aus dem Dreischritt von These, Antithese und ihrer Auflösung, der Synthese, ein grundlegendes Prinzip, einen konstruktiven Kampf der Widersprüche, der, ganz im Sinne Heraklits, die Entwicklung des Universums vorantreibt und alles seiner Bestimmung zuführt.[iii] So, wie die Frucht den neuen Samen in sich trägt, ist die Synthese bereits wieder die These des nachfolgenden Entwicklungsschritts.

 

Weltgeist und Zeitgeist

In seiner 1817 erschienenen „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ und in den während der 1820er Jahre gehaltenen „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ entwickelt Hegel seine Idee weiter: Die Geschichte der Welt ist die Geschichte der dialektischen Selbstentfaltung eines göttlichen Weltgeistes. Der Prozess, durch den diese allumfassende Intelligenz die Vereinigung von Natur und Denken vorantreibt, verläuft – wie könnte es anders sein – in drei Schritten. Auf der ersten Stufe ist alles Geist; wir befinden uns in der immateriellen Welt der Logik. Auf der nächsten Stufe materialisiert sich der Geist in Raum und Zeit; die These „Geist“ hat ihre Antithese „Materie“ hervorgebracht. Oder, wie die Bibel es ausdrückt: „Das Wort ward Fleisch“. Die Synthese aus Geist und Natur ist der Mensch; mit ihm kommt das Bewusstsein in die Welt. Die Geschichte ist damit bei ihrer letzten Phase angelangt und nähert sich ihrem eigentlichen Ziel: Der Geist kehrt zu sich selbst zurück und gibt sich vollständig zu erkennen.[iv] Wie bei Schelling, ist der Mensch dabei allein Mittel zum Zweck. Der Weltgeist bedient sich seiner, um den Erkenntnisprozess zu vollziehen.


Dabei manifestiert sich der Weltgeist zunächst als der jeweilige „Zeitgeist“ einer bestimmten geschichtlichen Epoche. So äußert sich etwa der Absolutismus in der Vorstellung totaler Macht, die ein einziger Souverän ausübt; nicht nur das politische System, auch Architektur, Kunst oder Mode sind Ausdruck dieses Geists. Aus der These „Absolutismus“ entwickelt sich die Antithese „Aufklärung“, die Vorstellung, dass nicht der Monarch, sondern das Volk der Souverän ist. Ihren Kulminationspunkt findet die Gegenthese in der Französischen Revolution. Der Übergang zu einem neuen Zeitgeist wälzt nicht nur das politische System, sondern auch alle anderen Bereiche der Gesellschaft und der Kultur grundlegend um. Da sich der geschichtliche Prozess der Bewusstwerdung in Zyklen des Werdens und Vergehens vollzieht, gibt es auch keine absoluten Wahrheiten. Jede Epoche hat vielmehr ihre eigne Wahrheit, die durch eine neue Wahrheit der Folgeepoche abgelöst wird. Die Bestimmungsgrößen der vorangegangenen Zeit werden durch den Epochenwandel keineswegs vernichtet; sie werden vielmehr mitgenommen und auf eine höhere Ebene gehoben. Die Synthese aus Absolutismus und Aufklärung verkörpert zu Hegels Lebenszeit die Napoleonische Epoche: Einerseits krönt sich der Konsul der Französischen Republik in absolutistischer Manier selbst zum Kaiser; andererseits führt der neue Herrscher aber auch in weiten Teilen Europas ein fortschrittliches, den Geist der Aufklärung atmendes Rechtsystem ein.


Manche sind erwählt, den Lauf der Geschichte zu beschleunigen

Herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte, wie Napoleon Bonaparte, Alexander dem Großen oder Julius Cäsar kommt die Aufgabe zu, den Prozess voranzutreiben, denn sie haben die Fähigkeit, zu erkennen was „an der Zeit“ ist. Doch wohin strebt dieser Prozess, der das Bewusstsein der Menschheit in Dreierschritten auf immer höhere Ebenen hebt? Für Hegel ist dieses Ziel die individuelle und gesellschaftliche Freiheit. Waren seit der Vorantike nur einzelne oder wenige frei, so ist es die Bestimmung des geschichtlichen Werdens, letztlich allen Menschen den Weg in die Freiheit zu öffnen. Gewährleisten kann diese Freiheit wiederum nur der Staat; indem er für alle verbindliche Normen und Rechtssicherheit schafft, ist er das „an und für sich Vernünftige“ die ultimative Bedingung und Verwirklichung der Freiheit.

Schwarzweissgemälde: in den Gassen von Jena: Naopoleon auf einem weissen Pferd. Rechts steht Hegel und zieht den Hut
Hegel begegnet Napoleon 1806 in Jena

In dieser letzten Phase wird der Zeitgeist zum Weltgeist; er bedient sich der Philosophen, um seine Gedanken zu verkünden. Nur die Philosophen sind in der Lage, den Geist mit seinem eigenen Medium, dem Denken, wieder zu vereinen. So führt der Prozess des dialektischen Werdens den Geist von der Logik über die Natur zu Bewusstsein und Philosophie. Alles, was sich auf dem Weg dorthin vollzieht, dient dabei einem höheren Zweck. Da der Lauf der Geschichte der Weg des Geistes zu seiner Selbstoffenbarung ist, werden wir Ereignisse, die uns unsinnig, böse oder grausam erscheinen, in der Rückschau einst als notwendig erkennen.


Hegel sah sein Werk als den Abschluss der gesamten abendländischen Philosophiegeschichte und in der preußischen Monarchie die Verwirklichung des sittlichen Idealstaats – was ihm den Vorwurf einbrachte, „preußischer Staatsphilosoph“ zu sein. Die Idee eines vorbestimmten Verlaufs der Weltgeschichte, die bereits Augustinus und Kant propagiert hatten, hatte Hegel zu einem allumfassenden philosophischen Gedankengebäude ausgebaut, das sich in der Folge als außerordentlich wirkmächtig erweisen sollte.


Die Junghegelianer entwickeln die Philosophie des Meisters weiter

Hegel starb 1831 in Berlin, wahrscheinlich war er Opfer der damals wütenden Choleraepidemie. Seine Schüler spalteten sich nach seinem Tod in eine konservative und eine linke Fraktion. Während erstere bald in der philosophiegeschichtlichen Bedeutungslosigkeit verschwand, sollten die Linken, die so genannten Junghegelianer, einen beachtlichen Einfluss auf die weitere Menschheitsgeschichte haben. Die drei bekanntesten Schüler Hegels waren Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Engels.

Koloriertes Foto von Marx und Engels, beide mit imposanten Vollbärten
Wollten Kant und Hegel überwinden: Karl Marx und Friedrich Engels

Die Junghegelianer sahen im preußischen Obrigkeitsstaat keinesfalls ein Ideal und entwickelten ihrerseits eine Antithese. Die neue Philosophie war gekennzeichnet durch eine radikale Abkehr vom Idealismus, heftige Religionskritik und ein durch und durch materialistisches Weltbild. Ideen sind für Marx und Engels keine geistigen Phänomene, sondern Ausdruck von Besitzverhältnissen. Doch wie bei Hegel ist auch hier der Gang der Weltgeschichte dialektisch vorherbestimmt: Die These des Kapitalismus und des mit ihm verbündeten autoritären Staats wird an ihren inneren Widersprüchen scheitern und sich selbst zerstören. Über einen notwendigen Zwischenschritt, der Antithese der Diktatur des Proletariats, strebt dann die gesamte Menschheit der Synthese zu, dem Ideal einer klassenlosen Gesellschaft. Kaum eine andere philosophische Lehre dürfte das Leben so vieler Menschen bestimmt haben, wie die verschiedenen Versuche, den historischen Materialismus im 20. Jahrhundert politisch in die Tat umzusetzen.

 

 

 

Wer mehr wissen will:

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2014): „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, Holzinger.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2013): „Phänomenologie des Geistes“, Holzinger.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1996): „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“, Erster Teil, Meiner.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1979): „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, Suhrkamp.

Marx, Karl (1979): „Das Kapital“, Dietz. 

Russell, Bertrand (2012): „Philosophie des Abendlandes”, Anaconda.

Vorländer, Karl (1903) „Geschichte der Philosophie“ Band III: Die Philosophie der Neuzeit, abrufbar unter https://www.textlog.de/6484.html

Conradt, Michael (2011): „Hegel: Die Welt ist Geist”, Manuskript zur Radiosendung


Anmerkungen

[i] Vgl. Russel (2012) S. 712.

[ii] Vgl. Vorländer (1903) §47.1.

[iii] „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen"

[iv] Vgl. Conradt (2011). Hegel (1979). S. 319.



Kommentare


bottom of page